Der kurze Sommer der Anarchie
neunzehnten Jahrhundert kastenartig von der Gesellschaft abgeschlossen und ein beträchtliches Eigengewicht im Staat gewonnen. Ihr Offizierskorps war enorm aufgeblasen: auf sechs Soldaten kam ein Offizier. Obgleich sie schlecht geführt, technisch rückständig und ungenügend ausgebildet war, verschlang sie Anfang der zwanziger Jahre über die Hälfte des Staatshaushaltes. Ihre raison d‘etre war die einer Besatzungstruppe im eigenen Land. Auf sie und die neben ihr bestehenden Instrumente der Repression (Guardia Civil, Guardia de Asaltos, Cuerpo de Seguridad, Mozos de Escuadra) waren die herrschenden Klassen bis zum Bürgerkrieg ganz und gar angewiesen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Die Kraftprobe war unvermeidlich. Die Alternative zur Revolution war die Militärdiktatur. Spanien war schon 1917 reif für sie; aber der König zögerte. Er fürchtete die Republik, und mit ihm hielt die Agrar-Oligarchie zäh an der herkömmlichen Regierungsform fest. Während die Sozialdemokratie sich mit vagen Versprechungen und minimalen Konzessionen abspeisen ließ, war ein Kompromiß mit der CNT undenkbar. Somit wurde die Kraftprobe auf dem Terrain der Anarchisten ausgetragen, in Barcelona. Fünf Jahre eines blutigen Stillstandes, bei dem sich die Gegner, fest ineinander verkrallt, kaum von der Stelle bewegten, das war die fünfjährige Stadtguerilla von Barcelona in den Jahren 1917-1923: der Status quo als Paroxysmus, die Generalprobe für den Bürgerkrieg. Die Unternehmer, unterstützt von Armee und Polizei, gingen zum Gegenangriff auf die CNT über. Die Grenze zwischen Kriminalität und Staatsgewalt löste sich auf. Der Armeekommandant von Katalonien, General Martinez Anido, und sein Polizeichef, General Arlegui, waren ebenso Figuren der Unterwelt wie Repräsentanten der Staatsgewalt. Nicht die Gestapo, sondern die spanische Administration hat die Erschießung von Verhafteten »auf der Flucht« als normale Polizeimaßregel eingeführt und durch die Ley de fugas gesetzlich sanktioniert, und das katalanische Kapital schuf sich in Gestalt der paramilitärischen Pistoleros eine SA avant la lettre. Der permanente Krieg im Dickicht von Barcelona brachte mit Schießereien, Sabotageakten, Provokationen, mit Aussperrungen, Massenverhaftungen, mit der Blüte des Spitzelwesens, mit Mord, Folter und Erpressung die Stadt an den Rand des Chaos.
Der Kolonialkrieg in Marokko, der zu einer schmählichen Niederlage der spanischen Armee führte, gab dem alten Regime im Jahre 1923 den Todesstoß. Der letzte Ausweg war die Diktatur. Pnmo de Rivera war vor allem der Kandidat der Industriebourgeoisie; er trat mit einem Programm der »Modernisierung« an, das er sich aus den Parolen Kemal Atatürks und Mussolinis zusammengeklaubt hatte. Dabei war er natürlich auf die Stütze der Armee angewiesen, der er allerhand Konzessionen machen mußte. Die CNT wurde verboten. Die Sozialdemokratie entschloß sich zur Kollaboration; ihr Führer Largo Caballero trat in das Kabinett des Diktators ein; Schlichtungsverfahren und Tarifverträge sollten das »soziale Problem« lösen. Das bedeutete praktisch die Verstaatlichung der Gewerkschaften und die Bildung einer »Arbeitsfront«. Die intellektuelle Opposition wurde unterdrückt. Die katalanische Frage ignorierte Primo. Die Reformen blieben auf dem Papier. Die Widersprüche der spanischen Gesellschaft ließen sich nicht vom Schreibtisch des Diktators aus »sanieren«. Mit der Wirtschaftskrise von 1929 war das autoritäre Experiment Primo de Riveras gescheitert. Das Militär schwankte. Die Monarchie war am Ende. Die Interessen des spanischen Industriekapitals setzten eine neue Regierungsform durch: die Republik. Im März 1931 dankte Alfons XIII. ab.
Das Exil
Die Flucht
1923, als der Diktator Primo de Rivera ans Ruder kam, mußten Ascaso und Durruti ins Exil gehen, denn in Spanien hätten die Reaktionäre ihnen das Genick gebrochen. Ascaso war damals gerade im Gefängnis, wegen des Attentats auf den Erzbischof von Zaragoza, den Kardinal Soldevila. Aber die Genossen haben einen Ausbruch organisiert, und unter den Ausbrechern war auch Ascaso. Er hat es aber nicht so gemacht wie die andern, sich herumgetrieben und ins Cafe gesetzt, daß sie ihn nach ein paar Tagen wieder hatten wie all die andern. Er nahm einen Güterzug, der jede Nacht das Vieh aus dem Norden nach Barcelona brachte. Da fuhren immer die Hirten mit, damit das Vieh nicht gestohlen wurde unterwegs. Und Ascaso zog sich so eine schwarze
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