Der kurze Sommer der Anarchie
ein anderer Genosse nach Paris.
Er bestätigte dort, daß in Barcelona alles zum Aufstand bereit war und daß der Tag des Losschlagens durch Telegramme an die Gruppen in Frankreich bekanntgegeben würde.
Als Codewort sollte gelten: »Mama ist krank.« In Paris, Lyon, Perpignan, Marseille und an allen andern Orten, wo es anarchistische Gruppen gab, wurde dieses Telegramm mit Ungeduld erwartet.
Wer jene Augenblicke des Fiebers erlebt hat, wird sie nie vergessen. Wir wußten, daß wir nach Empfang des Telegramms unver züglich die Grenzen erreichen und uns auf einen harten Kampf mit der Grenzpolizei gefaßt machen mußten. Sie war zahlenmäßig stärker, besser organisiert und besser bewaffnet als wir. Endlich kam das Telegramm. Wir brachen sofort auf, in kleinen Gruppen von zehn bis zwölf Mann, nur mit Revolvern bewaffnet. Das Geld hatten wir uns vom Munde abgespart. Die Pariser Genossen trafen sich an der Gare d‘Orsay. Ascaso der Ältere teilte die Fahrkarten aus und bestieg als letzter mit seinen schweren Koffern den Zug. Er führte 25 Winchesterbuchsen mit sich, die schwersten Waffen, über die wir verfügten. Zur gleichen Zeit bereiteten die Genossen in Barcelona den Sturm auf die Artilleriekaserne von Atarazanas vor. Um nicht aufzufallen, teilten sie sich in sehr kleine Gruppen, die in der Nacht vorher bestimmte Punkte besetzten. Der Angriff sollte Punkt sechs Uhr mit Handgranaten beginnen. Atarazanas liegt im fünften Bezirk von Barcelona, einem Viertel, das stets besonders gut überwacht wird. Denn dort sind von jeher die ersten Barrikaden errichtet worden, dort befanden sich die Druckerei der Solidaridad Obrera, die Redaktionen von Tierra y Libertad und Crisol, die Sitze der Holz- und der Bauarbeitergewerkschaft, und es wohnten dort viele der Genossen, die in diesen Zentren beschäftigt waren.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen mußte die Polizei Lunte gerochen haben; denn eine der Kampfgruppen wurde beim Vorrücken auf die Kaserne von einer Patrouille gestellt. Es kam zu einem heftigen Schußwechsel, bei dem ein Wachsoldat getötet, ein zweiter verwundet wurde. Verstärkungen rückten an, Alarm wurde gegeben, und die Polizei umstellte mit Maschinengewehren die Kaserne. Damit war der Angriff im Keim erstickt. Zwei Genossen wurden in der Nähe festgenommen und auf der Stelle erschossen.
Nachdem die Aktion in Barcelona gescheitert war, hatte der Angriff auf die Grenzstationen nicht mehr die geringsten Chancen. Zu allem Unglück trafen die Gruppen, die auf Vera und Hendaya angesetzt waren, 18 Stunden früher als die übrigen ein, weil die Reisewege nicht richtig kalkuliert worden waren. Ihr erstes Gefecht bestanden sie erfolgreich, aber dann wurden überlegene Kräfte gegen sie ins Feld geführt.
Sie mußten sich auf einem langen, ermüdenden Marsch über das Hochgebirge kämpfend zurückziehen. Zwei Kameraden sind dabei gefallen, einer wurde schwer verwundet. Mehrere andere Versprengte wurden zwei Tage später gefaßt. Vier von ihnen sind in Pamplona hingerichtet worden, die übrigen sollen vor Gericht gestellt worden sein.
Als die Gruppen, die zum Angriff auf Figueras und Gerona bestimmt waren, in Perpignan eintrafen, konnten sie dort bereits in der Zeitung lesen, was bei Vera vorgefallen war. Sie waren zu spät gekommen. Die Polizei war längst alarmiert. Da fast tausend Mann nach Perpignan gekommen waren, mußte sich die Truppe sogleich zerstreuen, um nicht aufzufallen. Trotzdem wurden viele festgenommen. Nur eine Gruppe von fünfzig Mann entwischte geschlossen und konnte auch noch die Koffer mit den Gewehren und der Munition in Sicherheit bringen. Sie erreichte in Eilmärschen die Abhänge der Pyrenäen. Hier traf sie, wie vereinbart, einen Genossen aus einem spanischen Dorf, der ihnen als Führer durch das Hochgebirge nach Figueras dienen sollte. Dort wollten sie planmäßig das Gefängnis angreifen und die Genossen befreien, die da festgehalten wurden. Der Bergführer brachte jedoch schlechte Nachrichten mit. An der Grenze hatten mehrere Regimenter Stellung bezogen, die über Artillerie und automatische Waffen verfügten. Ohne das Moment der Überraschung war jedoch unser Angriff mit unterlegenen Kräften sinnlos. Wir weinten vor Wut, vor Zorn und vor Scham darüber, daß wir als Geschlagene heimkehren mußten, ohne auch nur den Kampf aufgenommen zu haben. Einer von uns war Ascaso. Durruti war mit der Gruppe gezogen, die bei Vera die Grenze überschritten hatte. Jover befand sich unter den Angreifern in
Weitere Kostenlose Bücher