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Der kurze Sommer der Anarchie

Der kurze Sommer der Anarchie

Titel: Der kurze Sommer der Anarchie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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herrscht. Wer Barcelona aus Friedenszeiten kennt und am Bahnhof aussteigt, hat nicht das Gefühl, daß sich viel verändert hätte. Die Grenzformalitäten werden in Port-Bou erledigt; man verläßt den Bahnhof der Hauptstadt wie ein beliebiger Tourist und flaniert ihre Straßen entlang, die belebt und friedlich wirken. Die Cafes sind offen, wenn auch weniger voll als gewöhnlich; ebenso die Läden. Das Geld spielt immer noch seine alte Rolle. Wenn es mehr Polizisten gäbe und weniger Jungens, die mit Gewehren herumlaufen, würde einem nichts auffallen. Man muß sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß hier wirklich eine Revolution stattgefunden hat, und daß man hier wirklich eine jener historischen Perioden miterlebt, von denen man in den Büchern gelesen und seit der Kindheit geträumt hat, 1792, 1871, 1917. Mögen diesmal die Folgen glücklicher sein! Nichts hat sich hier geändert, in der Tat, mit einer kleinen Ausnahme: die Macht gehört dem Volk. Die Männer im blauen Overall haben das Kommando übernommen. Eine außerordentliche Zeit ist angebrochen, eine jener Epochen, die bisher nie lang gedauert haben, wo diejenigen, die immer nur gehorcht haben, die Verantwortung für das Ganze selber tragen. Es ist klar, daß es dabei nicht ohne Schwierigkeiten abgeht. Wenn man Siebzehnjährigen inmitten einer unbewaffneten Bevölke rung geladene Gewehre in die Hand drückt... 
    Simone Weil

    8. August 1936.
    Das Auto raste von Prat aus, wo sich der Flugplatz befindet, die zehn Kilometer nach Barcelona. An der Ausfahrt vom Flugplatz, quer über die ganze Straße, ein Transparent: »!Viva Sandino!« Es lebe Sandino! Immer häufiger auf der Chaussee Barrikaden aus Säcken mit Baumwolle, aus Steinen, aus Sand. Auf den Barrikaden rote und schwarz-rote Fahnen; daneben Bewaffnete mit großen, spitzen Strohhüten, Baskenmützen, Kopftüchern, ganz verschieden gekleidet, manche sogar halbnackt. Einige kamen zum Chauffeur gelaufen, fragten nach den Papieren, andere grüßten nur und winkten mit den Gewehren. An einigen Barrikaden wurde gegessen, Frauen hatten Mittagbrot gebracht, die Teller standen auf Steinen, Kinder krochen, nachdem sie zwei, drei Löffel Suppe gegessen hatten, immer wieder in die Schießscharten, spielten mit Patronen und Bajonetten.
Sobald wir uns der Stadt nähern, schon in den ersten Straßen ihrer Vororte, geraten wir in einen Strom glühender Menschenlava, in den unvorstellbaren Hexenkessel der riesigen Metropole, die nun Tage ihres höchsten Aufstiegs, Glücks und Wagemuts erlebt.
Hat es jemals solch ein siegestrunkenes, rasendes Barcelona gegeben? Hier ist das spanische New York, die schönste Stadt am Mittelmeer, mit ihren blendenden Palmenboulevards, ihren gigantischen Avenuen und Uferpromenaden, ihren phantastischen Villen, in denen die Pracht der byzantinischen und türkischen Paläste am Bosporus wiedererstanden ist. Endlose Fabrikviertel, Riesenhallen für Schiffswerften, Gießereien, Elektro- und Automobilwerke, Textilfabriken, Schuh- und Schneidereibetriebe, Druckereien, Straßenbahndepots, Großgaragen. Bankhäuser in Wolkenkratzern, Theater, Kabaretts, Vergnügungsparks. Schauerliche, finstere Elendsbehausungen, das üble, kriminelle »Chinesenviertel«, enge steinerne Ritzen inmitten des Stadtzentrums, schmutziger und gefährlicher als alle Hafenkloaken von Marseille und Stambul. All das ist jetzt übervoll, verstopft von einer dichten, erregten Menschenmenge. Alles ist aufgewühlt, ans Tageslicht gehoben, in höchster Spannung, auf den Siedepunkt gebracht. Auch ich bin angesteckt von dieser in der Luft liegenden Leidenschaft, ich spüre die dumpfen Schläge meines Herzens. Mit Mühe schiebe ich mich in dieser geballten Menge vorwärts, umringt von jungen Menschen mit Gewehren, von Frauen mit Blumen im Haar und blanken Säbeln in der Hand, von alten Männern mit Revolutionsschärpen über der Schulter, von den Porträts Bakunins, Lenins und Jaures‘, inmit ten von Liedern, Orchestermusik und dem Geschrei der Zeitungshändler. Ich gehe an einem Kino vorüber, in dessen Nähe gerauft und geschossen wird, vorüber an Straßenmeetings und feierlichen Umzügen der Arbeitermiliz, vorüber an verkohlten Kirchentrümmern und bunten Plakaten. Im ineinanderfließen den Licht der Neonreklamen, des riesigen Mondes und der Autoscheinwerfer stoßen wir mitunter die Gäste der Cafes an, deren Tische den ganzen Gehsteig einnehmen. Mühsam gelangen wir auf den Fahrdamm und endlich ins Hotel »Orient« auf

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