Der kurze Sommer der Anarchie
den Ramblas de las Flores.
Michail Kol‘cov
Die Anarchisten standen früher abseits des Lebens; sie lebten den Mythen des vorigen Jahrhunderts und ihrer Kühnheit. Ich werde niemals den halbanalphabetischen Landarbeiter aus Fernan Nuriez vergessen, der wiederholte: »Warum streitet ihr über die Zweite und Dritte Internationale? Es gibt doch die Erste Internationale...« Für ihn war der companero Miguel Bakunin ein Zeitgenosse.
In Barcelona gab es viele Anarchisten unter den Arbeitern.
Am 19. Juli stürmten sie Schulter an Schulter mit Kommunisten und Spzialisten das Hotel Colon. Vor den Häusermauern auf den Steinen des Trottoirs — Haufen von Blumen:
Hier waren die Helden Barcelonas gefallen. Das unbewaffnete Volk hatte die Armee besiegt.
»Wir fahren nach Zaragoza« - diese Worte prangten auf den Karosserien der Taxis. Zarte Mädchen hatten die Nadeln weggelegt und schleppten nun mühevoll die schweren Gewehre. Die Arbeiter Barcelonas bedeckten einen Hispano-Suiza mit Matratzen und fuhren mit Revolvern bewaffnet zum Kampfe. Sie spielten auf ihren Guitarren revolutionäre Hymnen. Sie ließen sich mit breitkrempigen Hüten fotografieren. Unter ihnen gab es Hunderte Pancho Villas. Die Faschisten in Zaragoza hatten Tanks und Flugzeuge.
Das 19. Jahrhundert lebte noch in den Speichern und Kellern Barcelonas. An den Wänden hingen Plakate:
»Organisation der Antidisziplin.« Zwischen zwei Salven sprachen die Anarchisten von der Neuschaffung der Menschheit.
Einer von ihnen sagte zu mir: »Weißt du, warum unsere Fahne rot-schwarz ist? - Rot - das ist der Kampf, und schwarz - weil der menschliche Geist dunkel ist.«
Il‘ja Erenburg 2
Die Enteignung
Fast unglaublich ist der Umfang der Enteignungen, zu denen es in den wenigen Tagen seit dem 19. Juli gekommen ist. Die größten Hotels sind, mit ein oder zwei Ausnahmen, allesamt von den Organisationen der Arbeiterklasse requiriert (und nicht, wie viele Zeitungen schrieben, niedergebrannt) worden. Ebenso die größeren Ladengeschäfte. Viele Banken sind geschlossen, an den übrigen verkünden Schilder, daß sie unter der Kontrolle der Generalität stehen. So gut wie alle Fabrikbesitzer sollen entweder geflohen oder umgebracht worden sein. Ihre Betriebe haben die Arbeiter übernommen. Überall sieht man an den Fronten der Geschäftshäuser riesige Plakate, die die Enteignung verkünden und besagen, daß die CNT die Leitung übernommen oder daß die oder jene Organisation das Gebäude zum Sitz ihrer Komitees gemacht hat.
Franz Borkenau
Die Organisationen der Arbeiterklasse haben sich in Bürohäusern und den Villen der Reichen eingerichtet. Die Klöster, von den Parasiten befreit, dienen als Schulen; in einem Nonnenkloster macht sich sogar eine neue Universität an die Arbeit. Volksrestaurants, von Bauernkomitees eingerichtet, stehen der Miliz und den organisierten Arbeitern zur Verfügung. Bei den Händlern, die auf eine Teuerung spekulieren, werden Lebensmittelvorräte beschlagnahmt und verteilt.
Aber die größte Veränderung betrifft die Produktionssphäre. Viele Unternehmer, Techniker, Direktoren, Gutsbesitzer und Verwalter sind geflohen. Andere sind von den Arbeitern verhaftet und vor Gericht gestellt worden. Die Textilarbeitergewerkschaft schätzt, daß die Hälfte der Unternehmer in ihrem Bereich geflohen ist; 40% wurden »aus der gesellschaftlichen Sphäre entfernt«; das restliche Zehntel hat sich bereiterklärt, unter den neuen Verhältnissen weiterzuarbeiten, als Angestellte der Arbei ter. Die Arbeiterräte und -Komitees kontrollieren die Betriebe, beschlagnahmen Firmen und Gesellschaften, die in privatem Besitz waren. Die hauptsächlichen Produktionsmittel werden von den Gewerkschaften, den landwirtschaftlichen Kooperativen, den städtischen Verwaltungsstellen übernommen. Nur die kleinen Betriebe im Konsumgütersektor bleiben in privater Hand. Sozialisiert worden sind auch die Verkehrsbetriebe und Eisenbahnen, die ölgesellschaften, die Montagewerke der Ford und der Hispano-Suiza, die Hafenanlagen, die Kraftwerke, die Warenhäuser, die Theater und Kinos, die Metallfabriken, die für die Rüstung in Betracht kommen, die Exportfirmen für landwirtschaftliche Produkte, die großen Weinkellereien. Die juristische Form der Beschlagnahmung war von Fall zu Fall verschieden. Die Unternehmen wurden zum Teil Kommunaleigentum, in andern Fällen wurde ein Vertrag mit dem früheren Besitzer geschlossen, in andern Fällen wurde dieser glatt enteignet. Ausländische
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