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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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einem weiteren Onkel gehen durfte, um Drechsler zu werden. Nun, Johannes hatte das kürzere Stöckchen gezogen. Jewgenij hörte ihm zu und stellte Fragen zu seinem Bruder Simon, der ertrunken war, zu seiner Reise nach Moskau, die ihn über die Ostsee um das Nordkap bis zum Hafen nach Archangelsk geführt hatte. Am liebsten aber lauschte er den Geschichten aus Moskau. Zum ersten Mal hatte Johannes das Gefühl, mehr über das Land zu wissen, in dem er nun lebte, und er musste zugeben, dass es ein gutes Gefühl war. Er beschrieb die bunt bemalten Pferdekutschen, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren – die Droschken und die großen Troikas, die von drei Pferden gezogen wurden. Für Jewgenij ließ er die Maskenumzüge lebendig werden, die Eisbahnen und Schlittenfahrten, die geschmückten Frauen und die Wintermärkte, auf denen Händler tiefgefrorene Köstlichkeiten feilboten, die von den Käufern auf Handschlitten nach Hause gezogen wurden. »Vor dem Kreml dürfen keine Märkte errichtet werden, deshalb tragen die Händler ihre Waren auf dem Rücken«, erzählte er. »Für jede Ware gibt es einen Verkaufsplatz – für den Verkauf von Seide, von Tuch, Leinenzeug und Bildern. Auf einem Platz verkaufen nur Kürschner ihre Ware, anderswo sind nur Schuster oder Goldschmiede. Und dann gibt es noch den Lausemarkt. Er wird so genannt, weil dort viele Barbiere ihre Läden haben. In einem Haus, das einfach der ›Gasthof‹ genannt wird, stellen Perser, Armenier und andere Völker ihre Waren aus.«
    Schließlich erging er sich in der Beschreibung der Kirchen und der unzähligen Glocken, deren Klänge die Stadt wie ein ewiges Wiegenlied umflossen. Er vergaß auch nicht, den Kolomenskojepalast bei Moskau zu erwähnen, der ohne einen einzigen Nagel erbaut war, zweihundertfünfzig Wohnungen barg und insgesamt dreitausend Fenster hatte, in deren Scheiben sich das Sonnenlicht brach wie in einem gewaltigen Kristall.
    Als die Nächte wieder dunkler wurden und die Schiffsmodelle verstaubten, weil keine Hand sie mehr berührte, begannen Johannes und Jewgenij, Fische über einem kleinen Feuer zu rösten. Schnell hatte Johannes herausgefunden, dass sein Freund kein gewöhnlicher Fischer war – die Russalkas trieben ihm die Beute ins Netz, sodass er sie nur noch aus den Wellen zu ziehen brauchte. Die Soldaten zahlten gut dafür.
    »Ist es weit bis zu deinem Haus?«, fragte Johannes eines Nachts, als sie am Ufer saßen. Jewgenij schüttelte stumm den Kopf. Die unausgesprochene Frage wälzte sich schwer zwischen sie und Johannes ärgerte sich bereits, sie überhaupt gestellt zu haben. Dennoch ließ ihn die Neugier nicht los. Ein Halbmond stand am Himmel, ab und zu ließ eine Welle das Boot schaukeln. Johannes wusste, dass die Russalka in der Nähe umherstreifte, obwohl sie sich ihm noch nie gezeigt hatte. Sosehr sich Johannes bemühte – mehr als ein Glitzern oder eine Hand, die flüchtig im Wasser auftauchte, bekam er von ihr und den anderen Russalkas nicht zu sehen. »Du willst wissen, wer ich bin«, stellte Jewgenij fest. »Dann frage mich doch einfach. Dieses Geschleiche um den Futtertopf kann ich nicht leiden.«
    »Gut«, sagte Johannes. »Wer bist du? Wo lebst du, wer ist deine Familie?« Und wie um sich zu rechtfertigen setzte er hinzu: »Ich meine, du weißt so viel von mir, ich habe dir von meinen Brüdern erzählt, von Moskau … von dir weiß ich nur, dass du Fische fängst und mit Russalkas sprechen kannst.«
    Jewgenij lächelte kryptisch. »Ich wohne auf der anderen Seite der Newa. Von dort drüben geht es ostwärts weiter. Es ist eine Kate aus Kiefernholz. Sie … hat meinem Großvater gehört.«
    »Sie gehörte ihm? Also war er kein Leibeigener?«
    Jewgenijs trockenes Lachen störte eine Flussratte auf, die sich raschelnd durch die Uferböschung davonmachte. »Denkst du immer nur wie ein Grundbesitzer?«, fragte er spöttisch. »Hier die Herren, dort die Sklaven?« Er verbiss sich ein verschmitztes Lächeln. »Uns gibt es gar nicht, verstehst du? Wir sind weiße Wölfe – man sagt, sie existieren, aber die, die einen gesehen haben, können es selten beweisen. Manche halten uns für Finnen, manche für Russen, der Zählung durch die Kuriere der Zaren haben wir uns seit jeher entzogen.«
    »Aber dann bist du in Gefahr! Wenn jemand herausfindet, dass ihr keine Papiere habt …«
    »Hör auf, Brehmow«, unterbrach ihn Jewgenij unwirsch. »Wenn der Fischer zu gierig ist, rutschen die Fische ihm durchs Netz. Auch

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