Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
Soldaten lassen sich bestechen. Und meine Großmutter zahlt gut.«
    »Du lebst mit deiner Großmutter in eurem Haus?« Musste er jede Antwort aus seinem Freund herauspressen? Es schien Jewgenij viel zu kosten, ihm eine Antwort zu geben. »Ja. Aber sie ist krank.«
    »Krank?«, rief Johannes aus. »Warum hast du das nicht früher gesagt? Ich kann dir helfen – ich kenne den besten aller Ärzte!«
    Unvermittelt fuhr Jewgenij hoch. Erstaunt sah Johannes ihn an. Wütend klopfte sich der Fischer Grashalme von der schäbigen Jacke. »Du verstehst es nicht, was?«, fuhr er ihn barsch an. »Ich will eure Ärzte nicht! Wir brauchen keine Almosen. Ihr seid die Eindringlinge hier – ohne euch gäbe es keine Krankheiten hier, keinen Krieg, keine Toten. Ohne euch hätte ich noch eine Familie, wenn du es wissen willst!«
    Johannes war, als hätte ihm Jewgenij einen Schwall eisigen Wassers über den Kopf geschüttet. Seine anfängliche Empörung wich einem bangen Gefühl des Bedauerns. Jewgenij stand vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt. Unwillkürlich schämte sich Johannes für etwas, was er nicht getan hatte.
    »So habe ich es nicht gemeint, Jewgenij«, sagte er leise. »Entschuldige – ich wusste nicht, dass deine Familie … gestorben ist.«
    »Gestorben? Das klingt, als hätten sie die Augen zugemacht und wären eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Aber so einfach war es nicht. Ermordet wurden sie! Meine Mutter, mein kleiner Bruder und … meine Schwester. Was glaubst du, was Soldaten im Blutrausch mit Menschen machen?« Johannes schluckte krampfhaft. Plötzlich fror er. »Mein Bruder war noch so klein, dass er nicht einmal weglaufen konnte, als …« Jewgenij räusperte sich und wandte den Kopf ab. Aber Johannes hatte das verräterische Glänzen in seinen Augen längst bemerkt. Er kämpfte den seltsamen Impuls nieder, seinen Freund in den Arm zu nehmen. Krampfhaft atmete Jewgenij durch und setzte sich wieder. Mit unergründlichem Gesicht starrte er auf das Flusswasser.
    »Nicht einmal die Russalkas konnten sie retten«, sagte er bitter. »Jetzt sind wir allein – nur noch Katka und ich.«
    »Das tut mir Leid«, sagte Johannes. »Glaubst du wirklich, ich sei mit schuld daran?«
    Jewgenij zuckte trotzig die Schultern, aber Johannes sah, wie seine Fäuste sich langsam wieder öffneten. »Nicht du, Brehmow. Aber die Deutschen, dieser Zar und seine Soldaten – eure Ärzte …«
    »Warum seid ihr nicht geflohen?«, fragte Johannes.
    Jewgenij sah ihn an, als hätte er ihn gefragt, warum sie sich nicht in den Fluss gestürzt hatten. »Und die Russalkas zurücklassen?«, fragte er. »Niemals! Seit Generationen sind wir ihre Hüter!«
    Nun war Johannes verblüfft. »Das heißt, ihr könnt das Newadelta nicht verlassen?«
    »Wozu?«, fragte Jewgenij. » Ich will auch nicht fort, solange es hier noch Russalkas gibt. Nun, bald werden wir frei sein zu gehen, wohin es uns beliebt.«
    »Warum fliehen die Russalkas nicht? Können sie nicht im Meer leben?«
    »O doch«, gab Jewgenij zurück und betrachtete seine Hände. Sie waren nicht mehr zu Fäusten geballt und auch seine Stimme klang plötzlich weich und leise, wie Johannes sie nicht kannte. »Die Russalkas sind das einzig Schöne im Leben. Sie sind würdevoll und friedlich – Schönes muss man bewahren. Schon als Kind habe ich den Frühling erwartet. Sobald das Eis auf der Newa brach und die Gurkenfische zu ihren Laichplätzen schwammen, wartete ich auf meine Russalka. Jedes Jahr begrüßt sie mich. Eines Morgens ist sie da, wie ein Kind mit verschlafenen Augen. Im Winter ruhen sie auf dem Grund des Flusses. Nun werden sie keine Ruhe mehr finden.« Er senkte den Kopf. »Sie würden gerne fliehen, Brehmow. Sie sind ein altes Volk, das müde ist vom Warten. Längst haben sich die anderen im tiefen Herzen des Meeres gefunden, sich zurückgezogen von den Gefilden der Menschen. Meine Russalka erzählt oft davon wie von einem fernen Paradies. Aber sie dürfen nicht.«
    »Warum nicht?«
    Jewgenij lächelte. »Ich wäre ein schlechter Hüter, wenn ich es dir verraten würde, nicht wahr? Vergiss nicht, du bist mein Feind.«
    »Dann frage ich die Russalka!«
    Sein Freund lachte auf. »Es könnte sein, dass du schneller, als du schauen kannst, auf dem Grund der Newa liegst.«
    »Das müsste dir doch sehr recht sein«, gab Johannes zurück.
    Jewgenijs Grinsen wurde breit und verschmitzt. »Ein toter Deutscher in der Newa – o ja, das würde uns jetzt gerade noch fehlen!«
    * *

Weitere Kostenlose Bücher