Der Kuss der Russalka
bemerkte Johannes, wie das Boot schneller wurde, ohne dass Jewgenij die Ruder berührt hätte. Wirbel bildeten sich um das Heck, Fischhaut glitzerte. Eine Bugwelle türmte sich vor dem Boot auf, das sich ächzend in Bewegung setzte, ein morscher Schlitten, gezogen von schuppigen Leibern. Der Nebel nahm das Boot in Empfang, um es in seiner Umarmung zu verbergen. Fast hörte Johannes den Ruf nicht, der durch die Nebel seinen Weg zu ihm fand und ihm erstaunlicherweise einen warmen Freudenschauer in den Magen schickte.
»Vielleicht«, rief Jewgenij, als er schon zu einem Schemen wurde.
Mitja
Trezzini war ein ungeduldiger Auftraggeber. Oft saß Carsten Sund am Holztisch und raufte sich über dem Papierstapel mit unzähligen Skizzen die spärlichen Haare. Johannes’ Arm heilte schnell. Bald konnte er wieder in der Werkstatt mithelfen, auch wenn der Muskel noch steif war und bei bestimmten Bewegungen schmerzte. Wenn Marfa etwas von Johannes’ nächtlichen Ausflügen bemerkte, verlor sie kein Wort mehr darüber, allerdings nahm sie sehr wohl zur Kenntnis, dass er nicht mehr so viel Zeit für seine Modellschiffe hatte. Den alten Iwan ertappte Johannes mehr als einmal dabei, wie er ihn über den Rand seiner Suppenschüssel düster musterte. Vielleicht lag die Unruhe aber auch an der allgemein gereizten Stimmung und an Mitja, der wieder um die Werkstatt herumstrich. Seit Johannes um die Russalkas wusste, kam es ihm so vor, als würde über der alten Welt eine neue erstehen. Wie ein von der Blindheit Genesener, der den Geräuschen endlich wieder Bilder zuordnen konnte, entdeckte er in den Gesichtern der Leibeigenen ein seltsames Übereinkommen. Die Gerüchte rauschten lauter als trockene Blätter, die der Wind umtrieb. Spuren der Russalkas entdeckte er plötzlich überall und mit solcher Deutlichkeit, dass er sich wunderte, warum niemand sonst sie zu bemerken schien. Hier brach ein Brückengerüst zusammen, was die Konstrukteure dazu veranlasste, auf die unterirdischen Strömungen zu schimpfen. Dort verschwand Material vom Ufer, das dringend benötigt wurde, um neue Pfähle in den Uferschlamm zu treiben. Flöße aus zusammengebundenen Baumstämmen lösten sich aus unerfindlichen Gründen auf und die Baumstämme zerstreuten sich und wurden von seltsamen Strömungen weit in die Ostsee getragen. Boote liefen voll Wasser, andere kenterten aufgrund von unerklärlich hohen Wellen, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Von Sabotage war die Rede und mehrere Fronarbeiter wurden ausgepeitscht, weil man in ihnen die Übeltäter vermutete. In diesen Tagen, in denen die Luft vor Anspannung zu vibrieren schien, wurde auch ein russischer Geselle ausgepeitscht, der Zar Peter verächtlich als »verdammten Deutschen« bezeichnet hatte. Derejew bekam Johannes nicht zu sehen. Er bemühte sich unauffällig seine Arbeit zu machen, um in den weißen Nächten ungestört am Ufer umherstreifen zu können.
Erst in der dritten Nacht entdeckte er Jewgenij. Diesmal war das Boot besser verborgen, es war schwer von Fischen, die Jewgenij gerade in den Weidenkorb lud. Jewgenij tat so, als sei ihm das Wiedersehen völlig gleichgültig, aber Johannes ließ sich nicht abschrecken, packte einige Werkzeuge aus, die er mitgenommen hatte, und machte sich ohne viel Aufhebens daran, das Leck im Ruderboot abzudichten.
Trotz seiner Unfreundlichkeit, die Jewgenij gerne an den Tag legte, fühlte Johannes sich bald nicht mehr verhöhnt und vor den Kopf gestoßen. Im Gegenteil. Seit er Jewgenij kannte, schien es ihm, als habe ein neues Leben begonnen, als sei er ein Gefangener gewesen, der einsam in seiner Zelle gelegen hatte, um nun endlich wieder ein wenig Sonnenlicht zu finden. Nie hatte er bemerkt, wie sehr ihm ein Freund gefehlt hatte. Jewgenij schien es ähnlich zu gehen, obwohl er abweisend blieb. Gemeinsam streiften sie am Ufer entlang oder fingen im Wald Rebhühner, die Marfa mit einem kritischen Blick, aber schweigend entgegennahm. In diesen Wochen erfuhr Johannes alles, was ein Mensch über Gurkenfische wissen konnte, die Jewgenij »Korjuschka« nannte und die im Frühjahr aus der Ostsee kamen und zu ihren Laichplätzen newaaufwärts schwammen. Er dagegen erzählte Jewgenij von seinem Leben im Dorf, seinen Brüdern und dem kleinen Gehöft, das nicht ausgereicht hatte, um sie alle zu ernähren. Er verschwieg auch nicht, wie enttäuscht er gewesen war, als sie unter Brüdern ausgelost hatten, wer von ihnen nach Russland gehen musste und wer nach Holland zu
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