Der Kuss der Russalka
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Die ganze Stadt war auf den Beinen, als im Hafen ein holländisches Handelsschiff einlief und Salz und Wein ausgeladen wurden. Die Leibeigenen wurden nicht müde die fremdländischen Gäste anzustarren. Zar Peter ließ die Mannschaft fürstlich bewirten und feierte die Ankunft des Schiffes mit einem großen Fest. In diesen Tagen bekam Johannes einen Eindruck davon, wie Sankt Petersburg einst sein würde: ein riesiger Handelshafen, wo Waren aus aller Welt umgeschlagen wurden. An Bord des Schiffes war erstaunlicherweise auch eine Frau – ihre seidenen Röcke bauschten sich im Wind, während sie von der Reling ihren Blick über die riesenhafte Baustelle schweifen ließ und das Treiben auf der Hafenmole beobachtete. Nach europäischer Mode war sie in ein enges Mieder geschnürt. Für Johannes war das inzwischen ein ungewohnter Anblick, umso faszinierter betrachtete er die Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck, die ihn an seine Christine erinnerte.
Just als das Schiff wieder ablegte und Kurs auf die Ostsee nahm, kamen aus Moskau die nächsten großen Transporte an. Sie brachten Gurken, Wachs, Honig und Getreide, außerdem die neuesten Berichte, die gierig aufgesogen wurden.
Mit besorgtem Gesicht lauschte Onkel Michael den Berichten von den Kosakenaufständen am oberen Don. Unter den Kosaken waren auch viele entflohene Leibeigene. Ihre Besitzer, die berechtigt waren, nach ihren Bauern im ganzen Land zu fahnden, sie einzufangen und wieder zurückzuschleppen, warteten darauf, dass der Zar etwas unternahm. Dramatisch fuchtelte der Fuhrmann mit den Händen in der Luft herum, während er die Kämpfe schilderte und den Anführer der Kosaken, Ataman Kondratij Bulawin, nachahmte, wie er seine Forderungen stellte. In manchen der Gesichter glaubte Johannes so etwas wie düstere Bewunderung für die Aufständischen zu entdecken.
Das Wichtigste, was der Transport jedoch brachte, war ein Sack voller Zeitungen und Briefe aus der Deutschen Vorstadt – Johannes schien es wie eine Ewigkeit, bis er auf einem der Schreiben endlich Christines geschwungene, etwas kindliche Schrift erkannte. Das Papier war fleckig und wellig, wahrscheinlich war es unterwegs nass geworden und wieder getrocknet, aber die Buchstaben waren noch gut zu erkennen. Ein Kribbeln durchfuhr Johannes’ Hand, als er das spröde Papier berührte, dann rannte er mit seiner Beute schnurstracks in die Werkstatt und verkroch sich hinter die Hobelbank. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wurde ihm bewusst, wie selten er in den vergangenen Tagen an Christine gedacht hatte. Begierig las er die ersten Zeilen. Die Enttäuschung schlich sich heran, mit jedem Wort einen weiteren Schritt, bis sie schließlich neben ihm aufragte, groß und unüberwindbar. Kein einziges Liebeswort stand in dem Brief, stattdessen quoll das Schreiben vor wohl erzogenen Phrasen geradezu über. Christine erkundigte sich nach seinem Befinden um dann zu berichten, was es in der Vorstadt Neues gab. Der Sekretär der britischen Botschaft war krank. Ihr Vater hatte sich jetzt auf den Verkauf von Zobelpelzen verlegt, die er über Sibirien aus China bezog. »Der Händler hat uns auch Teekraut geschickt, außerdem gesternten Anis und chinesischen Tabak«, schrieb sie weiter. Ihre Schwester Helene würde im August heiraten – einen Wollhändler, der inzwischen auch gute Geschäfte mit Seide machte. Ansonsten wünschte sie ihm gute Gesundheit und hoffte, er fühle sich in der neuen Stadt wohl.
Hektisch drehte Johannes das Blatt um, stöberte nach einer verborgenen Nachricht, aber da war nichts, kein persönliches Wort. Christine und er hätten flüchtige Bekannte sein können, um sich solche Briefe zu schreiben. Wütend faltete er das Papier zusammen und stopfte es in seine Hosentasche. Das Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, wurde übermächtig. Plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher als Christine zu sehen. Er war so in Gedanken versunken, dass er kaum bemerkte, wie Iwan den Raum betrat. Erst als der alte Mann etwas Unverständliches murmelte und sich abrupt wieder zum Gehen wandte, fiel Johannes auf, dass er nicht allein war. Missmutig klopfte er sich die Sägespäne von der Hose und stapfte zum Haus hinüber.
Ein Trappeln ließ ihn zurückblicken. Der Geruch von alter, modriger Kleidung schlug ihm entgegen. Mitjas Fratze tauchte neben ihm auf. Noch nie war ihm der Gottesnarr so nahe gekommen. Wahnsinn verzerrte seinen Mund zu einem zähnefletschenden Grinsen. Schnell wie eine Viper
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