Der Kuss der Sirene
Stammplatz im Wald. Erik beobachtet mich vom Fahrersitz aus. Sein Gesicht liegt im Schatten.
Ich bleibe mit zusammengebissenen Zähnen in meinem Toyota sitzen, meine Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass es wehtut. Ewigkeiten vergehen, ohne dass sich einer von uns beiden von der Stelle bewegt. Was macht er hier? Er steigt aus und baut sich vor meiner Wagentür auf. Ich kurble die Scheibe runter.
»Hallo«, grüÃt er verlegen.
»Was willst du hier?«, frage ich verärgert. »Ich dachte, du wolltest mir zwei Tage Zeit geben.«
Er betrachtet den Schlüsselring, der an seinem Finger baumelt. »Ich weiÃ, aber ich hatte Angst, dass du dich von mir entfernst.«
»Erik, jetzt mal im Ernst, ich brauche nur ein wenig Abstand.« Beinahe hätte ich die Worte herausgeschrien.
»Tut mir leid. Ich wollte gar nicht raufkommen, aber bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich schon auf der KiesstraÃe unterwegs.«
Ich lege meine Hand auf seine. »Bitte gib mir nur die zwei Tage. Ich schwöre, alles wird gut.«
»Sicher.« Er beugt sich vor und gibt mir einen langen Kuss, auf den mein Körper sofort antwortet. Dann geht er. Wahrscheinlich hat er gehofft, dass mich dieser Kuss umstimmen würde.
Ich warte im Wagen, bis die roten Rücklichter seines Jeeps in der Ferne verschwunden sind.
DrauÃen ist es kälter als erwartet. Ich öffne den Kofferraum und hole eine schwarze Steppjacke mit einer pelzgefütterten Kapuze heraus. Ich ziehe sie über und schlieÃe den ReiÃverschluss bis zum Kinn. Ich vergrabe die Hände in den Taschen, während ich durch den Wald laufe. Meine Turnschuhe versinken in einer dicken Schicht aus Kiefernadeln, nasse Farnblätter streifen meine Hosenbeine. Ich atme mehrmals tief durch die Nase ein und genieÃe den Duft des feuchtkalten Waldes.
Die Dunkelheit scheint undurchdringlich. Als wären der graue Regen und der samtfarbene Himmel miteinander zu einer groÃen Decke verschmolzen. Als ich auf die Lichtung am See trete, lässt mich das Verlangen nach dem Wasser zittern.
Ich lege meine Sachen ab und tauche schnell unter. Ich bleibe länger unter Wasser als sonst â bis meine Lunge nach Sauerstoff schreit. Auch bei diesen eisigen Wassertemperaturen friere ich nicht. Es ist, als säÃe ich in einer Badewanne und jeder Muskel würde sich entspannen.
SchlieÃlich tauche ich auf, um Luft zu schnappen. Kaum ist mein Kopf über der Oberfläche, entlädt sich der Gesang. Meine Stimme ist voll und klar, die Melodie noch eindringlicher als letzte Woche. Doch schon nach einer halben Stunde erstirbt mir das Lied auf den Lippen und ich fühle mich beunruhigt.
Hastig richte ich mich im Wasser auf und spähe zu meinem Lieblingsbaum hinüber. Dort hängen noch immer meine Sachen, Erik ist nirgends zu sehen.
Und dann legt sich auf einmal in meinem Kopf ein Schalter um. Es fühlt sich genauso an wie damals, als ich Steven zu weit hinaus gelockt habe. Als wäre der Gesang nur einem tieferen Bedürfnis gewichen. Wieder überkommt mich der Rausch, der mich in jener Nacht dazu brachte, überdreht zu lachen und zu planschen, während Steven nur wenige Meter von mir entfernt mit dem Gesicht nach unten in den Wellen trieb.
Plötzlich steigt Panik in mir hoch. Die Stille summt in meinen Ohren, während sich mir der Magen umdreht.
Ich wirbele wieder und wieder herum, muss um alles in der Welt herausfinden, wo er ist. Wer auch immer es sein mag.
Und dann sehe ich den Körper. »Nein!«, kreische ich. Meine Stimme klingt fremd, wie die einer Wildkatze. Ich schwimme mit aller Kraft auf den Körper zu, der leblos im Wasser treibt wie ein Stück Treibholz. Ich drehe ihn einfach um, bekomme den Kragen eines T-Shirts zu fassen und schleppe ihn hinter mir her, während ich Wasser trete und dabei immer mehr Schwung bekomme. Endlich finden meine FüÃe Halt und ich kämpfe verzweifelt darum, ihn ans Ufer zu kriegen. Zum ersten Mal sehe ich das blasse Gesicht und begegne meinem schlimmsten Albtraum: Cole.
Neeeiiin! Ein tierischer Laut kommt aus meiner Kehle. Nicht Cole. Jeder darf es sein, nur nicht Cole!
Oh Gott, nein! Wie konnte es dazu kommen? Alles habe ich getan, um ihn von mir und vom See fernzuhalten. Er darf nicht tot sein. Noch einen Menschen auf dem Gewissen zu haben â das würde ich nicht durchstehen.
Coles haselnussbraune Augen starren glasig und leblos
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