Der Kuss der Sirene
ins Leere. Die dunklen Locken kleben ihm an Stirn und Schläfen. Seine Haut ist aschfahl und feuchtkalt. Er atmet nicht.
Ohne nachzudenken, hämmere ich auf seine Brust ein. Ich halte ihm die Nase zu und blase Luft in seine Lunge. Noch einmal erlebe ich jene verzweifelten Momente, die ich mit Steven durchlebt habe â wie ich ihn mit allen Mitteln zurückholen wollte, bis ich erkennen musste, dass schon alles Leben seinen ehemals so starken Körper verlassen hatte.
Das darf nicht noch einmal passieren! Nicht dem Menschen, der als Einziger in den letzten beiden Jahren ein wirkliches, tiefes Interesse an mir entwickelt hat.
Obwohl ich selbst auÃer Atem bin, zwinge ich mich, mit meinen Wiederbelebungsversuchen fortzufahren. Als ich mich erneut vorbeuge, um weiter Luft in seine Lunge zu pumpen, läuft Wasser zwischen seinen Lippen hervor. Und plötzlich hustet er.
Ich springe auf und weiche zurück. Er rollt sich auf die Seite, hustet schwer und spuckt dabei Wasser aus. Dann krümmt er sich wie ein Embryo zusammen und schnappt nach Luft.
Wie ferngesteuert hole ich meine Sachen vom Baum und verberge mich in den Schatten des Waldes. Er kniet sich hin und hält sich mit einer Hand den Bauch, während er die andere in den Uferschlamm drückt.
Als der Husten nachlässt und ich sicher sein kann, dass er es allein schafft, beginne ich zu rennen. Dabei muss ich Ãsten, Wurzeln und Felsbrocken ausweichen. Ich wünschte, ich könnte die Wahrheit genauso leicht hinter mir lassen wie Cole.
Der Kies schneidet in meine nackten FüÃe, als wollte er mich bestrafen. Beinahe hätte ich wieder getötet.
Als ich endlich meinen Wagen erreiche, muss ich mich fast übergeben.
Ich reiÃe die Fahrertür auf und lasse mich in den Sitz fallen. Dann rolle ich mich zu einer Kugel zusammen, schlieÃe die Augen und schaukle vor und zurück.
Beinahe hätte ich wieder getötet.
Kapitel 31
Am nächsten Tag gehe nicht zur Schule. Der Fluch macht mich krank. Und dieses Leben.
Ich kann Cole im Moment nicht gegenübertreten. Nicht im Bewusstsein dessen, was ich ihm beinahe angetan hätte.
Ich bleibe den ganzen Tag im Bett, während im Wohnzimmer der Fernseher dudelt. Grandma hat mir einen Teller Suppe gebracht. Er steht auf dem Nachtschrank neben meinem Bett. Die Suppe ist kalt.
Ich nehme den Spielzeug-Chevrolet in die Hand und lasse den Daumen über die Räder wandern. Um ein Haar wäre Cole jetzt bei Steven unter der Erde â weil ich nicht den Mut hatte, ihm die Wahrheit über mich sagen.
Ich fühle mich völlig leer. Ich habe keine Gefühle mehr. Ich habe kein Leben mehr. So sind die Sirenen aus den Mythen: Tötungsmaschinen, die nur auf Rache aus sind. Aber wenn das wahr ist, warum werde ich dann fast vom Schmerz in meiner Brust erdrückt? Und warum kann mein sehnlichster Wunsch nicht mit dem Ruf der Sirene versöhnt werden?
Auch Erik kann mir nicht helfen. Denn er ist wie all die anderen: Nur meine Sirenennatur hat ihn angezogen. Er braucht mich, um sich zu erlösen, aber mein wahres Selbst interessiert ihn nicht.
Aber Cole ist anders.
Jetzt weià ich, dass ich so nicht weiterleben kann.
Ich muss es ihm sagen. Tränen laufen mir über die Schläfen, ich halte sie nicht zurück.
Nichts. Das ist es, was die Frauen aus meiner Familie am Ende bekommen. Die Männer verlassen uns jedes Mal, wenn sie die Wahrheit erfahren. Ich weià nicht, ob ich das überleben werde.
Doch dann trifft mich plötzlich ein Gedanke wie ein Schlag: Vielleicht weià Cole schon alles. Vielleicht hat er mich gesehen, bevor er, ohne zu überlegen, in den See gelaufen und fast ertrunken ist.
Alle Hoffnungen und Träume der letzten Wochen schrumpfen immer weiter und sterben ab, ertrinken in meinen Tränen.
Ich drehe mich auf die Seite, drücke das Kissen gegen mein Gesicht, während sich mein Körper schluchzend schüttelt. Ich bekomme kaum noch Luft. Ich kneife die Augen zusammen und wünschte, ich könnte diesen Monat noch einmal neu beginnen und Cole alles erzählen, was ich ihm von Anfang an hätte sagen sollen.
Am nächsten Morgen bleibe ich vor dem Haupteingang der Schule stehen. Ich war letzte Nacht nicht schwimmen und habe miese Laune. Ich wollte vermeiden, Erik am See zu treffen. Aber vielleicht hat seine Umarmung ja den Schmerz von mir genommen.
Ich bin schwach. Viel zu schwach. Deshalb bin ich weggeblieben.
Weitere Kostenlose Bücher