Der Kuss der Sirene
Und jetzt muss ich einen ganzen Unterrichtstag durchstehen und es ist erst acht Uhr. Ich weià nicht, wie ich das schaffen soll. Aber eins ist klar: Heute Abend muss ich mich mit Cole treffen.
Ich drücke die schwere Eingangstür auf und betrete das Gewühl im Flur. Niemand merkt, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ich beiÃe vor Schmerz die Zähne zusammen. Mir ist, als würden sich bei jedem Schritt Glasscherben in meine FuÃsohlen bohren.
Wie aus dem Nichts legt sich eine Hand um mein Handgelenk. Kalt, fest, unerwünscht.
Ich wirbele herum und wappne mich.
Aber es ist nicht Cole. Es ist Erik. Er wirft mir einen merkwürdig verbitterten Blick zu. »Du wolltest heute Morgen vorbeikommen.«
Mit meiner freien Hand schiebe ich seine von meinem Arm. »Ich weiÃ, es tut mir leid. Ich hatte was Wichtiges zu erledigen.« In Eriks Augen ist etwas Herablassendes. »Hör mal, wir reden später, okay?«
Wieder dieser herrische Blick. Mich schaudert. Wir stehen so nah voreinander, dass ich nur noch einen einzigen Schritt auf ihn zutun müsste, um ihn zu küssen.
Da schaue ich auf einmal in Coles braune Augen. Doch er wendet sich abrupt ab und läuft den Gang hinunter. Alles in mir fühlt sich leer an. Die schrille Schulglocke ertönt und meine Kopfschmerzen werden unerträglich.
An diesem Abend stehe ich mit schmerzenden Gliedern am Strand vor Coles Haus. Die Sonne zieht orangefarbene Streifen über den Himmel. Ich beobachte die Schatten hinter den Vorhängen in seinem Zimmer. In einer halben Stunde muss ich gehen. Der Sonnenuntergang rötet die gewaltigen Gewitterwolken, die sich hinter mir auftürmen.
Jetzt müsste der Mond schon da sein, doch das breite Wolkenband verdeckt ihn. Ich muss gleich schwimmen, aber etwas hält mich hier.
Die ersten Blitze zucken übers Meer. Der Wind fährt durch meine Haare. Sie flattern mir um den Kopf wie tanzende Wellen. Die Kälte ätzt sich durch meinen blauen Pullover, aber ich blicke weiter gebannt auf das Haus.
Die Tür zu Coles Zimmer geht auf. Im ersten Moment will ich mich am liebsten verstecken, lasse es aber dann. Er tritt auf die kleine Veranda hinaus, die an sein Zimmer grenzt. Er bleibt nah an der Hauswand, unter dem Vordach, denn gerade hat es zu regnen begonnen. Wie ein Sturzbach prasselt der Regen auf mich herab.
Eins ⦠zwei â¦
Der Himmel verdunkelt sich weiter, eine Folge von Blitzen erhellt ihn. Cole wird mich in ihrem Licht erkennen.
Er greift nach hinten, knipst das Terrassenlicht aus und tritt vor. Sein graues T-Shirt wird sofort dunkel.
Mein Pullover ist längst durchgeweicht und ich spüre Wasser in meinen Schuhen. Ich will wegrennen. Und doch bleibe ich wie angewurzelt stehen, als Cole inmitten des tosenden Windes hinaus in die Dünen tritt.
Er klettert über die kleinen Sandhügel und durchquert den Saum aus Schilfgras. Und schon steht er vor mir. Regen tropft aus seinem Haar, Schultern und Brust zeichnen sich unter seinem durchnässten T-Shirt ab. »Was zur Hölle machst du hier?« Er muss schreien, damit ich ihn hören kann.
Hauptsache, er spricht mit mir. Doch ein Blick in seine Augen löscht jeden Hoffnungsschimmer.
Wie könnte er mir, wenn er alles weiÃ, eine zweite Chance geben?
Ich kann meine Gefühle für ihn nicht einfach abstellen. Vielleicht ist es Schicksal, dass er meinen See gefunden hat und wieder dorthin zurückgekehrt ist. Er ist der Einzige, der mir etwas bedeutet. Ihn will ich. Ihn oder keinen.
Wieder jagen Blitze über den Himmel, aber keiner von uns erschrickt. Das Gewitter scheint jetzt direkt über uns zu sein, doch wir rühren uns weder von der Stelle noch lösen wir unsere Blicke voneinander.
»Antworte mir nur auf eine Frage!«, schreit er. Das Gewitter will seine Worte verschlucken, sie mit sich fortreiÃen. Regen läuft an seiner Nase herunter und tropft herab. Er steht so nah vor mir, dass der Tropfen auf meiner Schuhspitze landet.
»Hast du dich jemals für mich interessiert?«
Das Zittern meiner Lippen verrät mich. Ich widerstehe dem Verlangen zurückzuweichen. Stattdessen bejahe ich die Frage mit einem Nicken, während sich meine Tränen mit dem Regen vermischen und über meine Wangen laufen. Es fällt mir schwer zu atmen. Ich schniefe nur.
Seine Wut schmilzt dahin und er streckt den Arm aus, als wollte er meine Tränen wegwischen. Doch dann
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