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Der Kuss der Sirene

Der Kuss der Sirene

Titel: Der Kuss der Sirene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Hubbard
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verhindern müssen. Wenn sie wüssten, dass ich ihn sogar umgebracht habe, was würden sie dann von mir denken? Wie viel schlimmer wären dann ihre Beschimpfungen?
    Mein Magen knurrt, während ich allein auf der Bank hocke. Ich weiß nicht, wie lange ich schon so dasitze, als ich ein Räuspern höre. Ich erstarre für einen Moment, dann richte ich mich widerstrebend auf.
    Cole schaut mir in die Augen und sein Blick sagt: Ich hasse dich nicht. Er stellt einen Teller ab und blickt auf das Sandwich.
    Â»Das ist nicht in Ordnung.«
    Ich schlucke. »Was?«
    Â»Was die andern mit dir machen.«
    Ich lege den Kopf zur Seite. »Sie haben doch gar nichts gemacht. Ich bin einfach gestolpert.«
    Â»Das meine ich nicht. Ich meine … jeden Tag.«
    Â»Wieso kümmert dich das überhaupt? Damit kann ich umgehen.« Ich schiebe das Kinn vor.
    Â»Warum nimmst du es einfach so hin?«
    Â»Weil ich es verdiene.«
    Er verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mir fest in die Augen. »Niemand verdient es, wie Dreck behandelt zu werden.«
    Ich funkle ihn an und wünschte, er würde mich wieder allein lassen. »Ich verdiene es aber. Was passiert ist, ist meine Schuld, und das wissen sie.«
    Â»Du gibst dir also wirklich selbst die Schuld?«
    Schweigen breitet sich aus.
    Â»Ja.«
    Â»Hm.« Er seufzt, aber er scheint nicht zu wissen, was er dazu sagen soll. »Na dann, lass dir dein Sandwich schmecken.«
    Ich will etwas erwidern, aber es gibt zu viel, was ich sagen möchte. Doch bevor ich überhaupt ein Wort herausbringe, lässt Cole mich mit meinen Schuldgefühlen allein.
    Keine Freunde . Das ist meine wichtigste Regel, denn nur so sind die anderen vor mir sicher. Ich stelle die Füße zurück auf den Boden und beobachte, wie Cole den Hof überquert. Ein dunkelhaariges Mädchen hält ihn an der Tür auf und umarmt ihn ein wenig zu lange. Es sagt etwas und er lacht, dann läuft es mit schwingenden Hüften davon. Er sieht dem Mädchen nach, greift nach der Tür und blickt sich noch einmal zu mir um. Er erwischt mich dabei, wie ich ihn beobachte, und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem leichten Lächeln.
    Ich sehe schnell weg. Seufzend nehme ich das Sandwich und beiße hinein. Ich bin so ausgehungert, dass es mir besser schmeckt als alles, was ich jemals gegessen habe. Die Sonne wärmt mich durch meinen dunklen Pulli, während ich still an Coles Mitleidsgabe kaue.
    Ich hoffe, das Wetter hält noch ein oder zwei Monate. Von Oktober bis Mai regnet es fast ununterbrochen in Cedar Cove, Oregon. Allerdings halten sich weniger Menschen im Tillamook-Wald auf, wenn es so richtig gießt, und ich muss mir nicht so viele Sorgen machen, dass jemand meinen See entdecken könnte.
    Heute scheint jedoch die Sonne und der Himmel ist wolkenlos. Nur noch ein paar Wochen und es ist Herbst. Dann verfärbt sich das Laub leuchtend rot und golden – wie unsere Schulfarben. Wenn die Football-Saison halb vorüber ist, werden draußen kaum noch vier Grad herrschen, nicht mal mittags. Ich hasse den Winter, wenn es nur wenige Stunden nach Schulschluss dunkel wird.
    Ich fürchte mich vor der Abenddämmerung. Im Sommer muss ich jede Nacht nur sieben oder acht Stunden schwimmen, aber im Winter, wenn sich die Nächte scheinbar endlos dehnen, sind es fast zwölf.
    Ich beiße von meinem Sandwich ab und starre auf den Boden.
    Noch neun Stunden, dann muss ich zurück zum See.

Kapitel 4
    Wie jeden Tag betrete ich vierzig Minuten vor Einbruch der Dunkelheit den Küstenfriedhof. Er liegt auf einer hügeligen Bergspitze zehn Minuten südlich von Cedar Cove, nicht weit entfernt vom Steilufer. Von hier aus blicke ich auf den Pazifik.
    Ich laufe die gewundenen Wege entlang, vorbei an der großen, beinahe kahlen Trauerweide bis zu Stevens Grab. Ich sinke neben dem Stein auf die Knie, zwischen dem Grab von Steven Goode und seinem Nachbarn, Matthew Pearson, dem zweiundsechzig Jahre auf dieser Erde vergönnt waren, mehr als dreimal so viele, wie Steven hatte.
    Ich drehe mich um, lege mich ins Gras und starre hinauf in den wolkenlosen Septemberhimmel. Während die Sonne langsam untergeht und sich der Himmel rosa und orange verfärbt, muss ich daran denken, was die Abenddämmerung bedeutet. Wenn Steven auf dem Gras, anstatt zwei Meter darunter liegen würde, wäre er jetzt direkt neben mir. Wir könnten die nächste

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