Der Kuss der Sirene
halbe Stunde damit verbringen, einfach Schulter an Schulter und Hand in Hand dazuliegen. Die Wärme seines Lächelns würde die Kälte der Erde verschwinden lassen.
Aber Steven ist tot und liegt in einem schönen Sarg aus Mahagoniholz, für den seine Mutter achttausend Dollar ausgegeben hat.
»Hallo Steven«, sage ich. Ich wühle in meiner Tasche und hole einen kleinen Chevrolet von Hot Wheels hervor. Er ist neonblau, genau wie seiner es war. »Den habe ich neulich in einem Spielzeuggeschäft entdeckt.« Ich halte ihn hoch in den Himmel, als könnte Steven ihn von dort aus sehen, wo auch immer sich seine Seele jetzt befindet.
»Ich weiÃ, es ist nicht dasselbe. Du kannst ihn nicht fahren. Aber ich musste an dich denken, als ich ihn sah, deshalb â¦Â« Ich habe einen für dich gekauft und auch einen für mich .
Ich lasse den Arm wieder sinken. »Der Typ, der deinen Wagen gekauft hat, wohnt in der Stadt. Ich sehe ihn manchmal. Er ist etwa fünfzig. Ich wette, er hat keine Ahnung, wie schwer du geschuftet hast, um ihn wieder so hinzubekommen.«
Meine Stimme versagt. Nur hier kann ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Ich weià nicht genau, warum ich jeden Tag auf der Suche nach Antworten hierherkomme. Als könnte Steven mir irgendwann verzeihen, was geschehen ist. Doch wenn ich zu ihm spreche, scheint jedes Mal ein winziger Bruchteil meiner Schuld zu schwinden.
Ich schlucke, während die erste Träne an meiner Schläfe hinabrinnt. Mein Blick verschwimmt, der dunkler werdende Himmel sieht auf einmal aus wie das Meer, sanft wogend und schimmernd.
Und plötzlich stehe ich wieder mit Steven am dunklen Strand.
Ich kichere nervös, als er seine Arme um meine Taille legt. Wir tänzeln schon seit Wochen um diese Situation herum. Ich bin zu ängstlich, ihn zu fragen, worauf er wartet. Zu ängstlich, dass ich falschliegen könnte.
Doch heute Nacht ist alles anders. Heute Nacht haben wir aufgehört zu tanzen.
Die Wellen schlagen ans Ufer. Steven steht hinter mir und seine Lippen wandern meine Halsbeuge entlang. Heute Nacht liegt eine elektrische Spannung in der Luft, die ein Feuer in mir entfacht. Es ist eine feuchtwarme Sommernacht, dunkle Wolken drohen mit Regen. Sie verbergen Mond und Sterne, man kann nur ein paar Meter weit sehen.
Die Luft schmeckt nach Salz, nach Sommer, nach allem, was ich liebe, und mich packt das überwältigende Verlangen, im Meer zu schwimmen.
Ich drehe mich in seinen Armen, bis wir einander zugewandt sind. Er beugt sich hinunter und schenkt mir einen langen Kuss. Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich hier sind, uns wirklich küssen. Es kommt mir wie ein Traum vor. Ohne den Kuss zu unterbrechen, weiche ich langsam zurück, bis meine FüÃe von den Wellen umspült werden. Steven zieht sich überrascht von der Berührung des Wassers zurück, doch ich reiÃe ihn wieder an mich, denn ich will mehr.
Mehr, mehr, mehr. Ich kann an nichts anderes denken.
»Lass uns schwimmen gehen«, flüstere ich ihm zwischen den Küssen zu. Ich weià nicht warum, aber ich will unbedingt schwimmen. Bevor er reagieren kann, ziehe ich ihm das T-Shirt über den Kopf und werfe es in den Sand.
Steven blinzelt. Vielleicht geht ihm das alles zu schnell, nachdem wir so lange gewartet haben. Aber er will es auch â das kann ich sehen. Er beobachtet mich dabei, wie ich auch mein T-Shirt wegschleudere, und als ich meine Hose ausziehe, tut er dasselbe. Dann stehen wir uns in Unterwäsche gegenüber. Ich nehme seine Hand und führe ihn tiefer ins Wasser.
Ich bin eigentlich immer sehr zurückhaltend. Aber heute Nacht nehme ich mir, was ich will, ohne an die Folgen zu denken. Als unsere FüÃe den Halt auf dem sandigen Grund verlieren, überwältigen mich meine Gefühle. Er will mich küssen, aber eine Welle trifft uns. Wir werfen die Köpfe zurück und lachen. Mir ist schwindelig, ich bin ganz aufgedreht und fühle mich so unglaublich glücklich, dass ich es nicht in Worte fassen kann.
Ich lache wieder und drehe mich auf den Rücken, um noch weiter hinauszupaddeln. Steven sagt etwas, doch meine Ohren sind voller Wasser und ich verstehe ihn nicht. Mein Lachen klingt jetzt wie eine Melodie. Es sprudelt aus mir heraus und wird zu einem betörend schönen Gesang, der die Nachtluft erfüllt.
Ich kann kaum glauben, dass ich es bin, die da singt. Meine Stimme wird immer
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