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Der Kuss der Sirene

Der Kuss der Sirene

Titel: Der Kuss der Sirene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Hubbard
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Geschichte gleich. In eine Decke gehüllt warte ich auf dem Rücksitz des Polizeiwagens, während Stevens steifer, mit einem Laken bedeckter Körper an mir vorbeigeschoben wird. Als die Sanitäter ihn in den Krankenwagen heben, stoßen sie mit der Trage an und eine Hand rutscht unter dem Laken hervor. Alles, was ich von Steven sehe, sind seine bleichen, leblosen Finger.
    Ich blinzele und schiebe die Erinnerung weg. Ich muss nicht schlafen, um Albträume zu haben.
    Die Umstände seines Todes kamen der Polizei verdächtig vor und eine Untersuchung wurde eingeleitet. Er war ein kräftiger, sportlicher Junge von siebzehn Jahren, der den Wellen hätte gewachsen sein müssen – schließlich schwamm er jeden Tag im Pool seiner Eltern und ging während der Sommermonate surfen. Die Polizei hat nie verstanden, warum wir in dieser dunklen Nacht schwimmen waren. Damals wusste ich es auch noch nicht.
    Ich wurde wieder und wieder befragt und ich wiederholte die Geschichte ein ums andere Mal – nur meinen Gesang erwähnte ich instinktiv nicht.
    Irgendwann kam die Polizei zu dem Schluss, dass ich ihn unmöglich ertränkt haben konnte. Jedenfalls nicht unter normalen Umständen. Steven war viel größer und stärker als ich. Als die Autopsie abgeschlossen war – es wurden keine Quetschungen, keine Hautpartikel unter den Fingernägeln, kein Anzeichen für einen Kampf gefunden –, wurde sein Tod als Unfall eingestuft.
    Reporter spekulierten darüber, dass er in der Dunkelheit die Orientierung verloren haben könnte. Dadurch wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, das Ufer zu finden und hätte sich vor Erschöpfung irgendwann nicht mehr über Wasser halten können. Andere waren der Meinung, dass ein Krampf im Bein schuld gewesen sei, der sich bei zunehmendem Wellengang noch verschlimmert hätte. Er sei Opfer eines tragischen Unfalls gewesen, hieß es.
    Doch meine Freunde sahen das nicht so. Sie wollten wissen, warum ich überhaupt mit ihm zum Strand gegangen sei. Warum ich ihn nicht gerettet habe. Und als ich mich weigerte, irgendetwas zu erklären, selbst Sienna gegenüber, wandten sie sich von mir ab.
    In den Tagen nach seinem Tod unterdrückte ich meinen Drang nach dem Wasser und ließ keinen Menschen an mich heran. Ich zog die Vorhänge in meinem Zimmer zu und starrte die ganze Nacht auf die Schatten an der Wand.
    Mit jedem Tag wurde ich kränker. Zuerst war es nur ein leichtes Fieber, doch schon bald konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Schließlich fuhr ich in die Berge zu einem See, in dem ich immer mit Sienna, Nicki und Kristi schwimmen gegangen war.
    Ich sang die ganze Nacht. Und am nächsten Morgen fühlte ich mich kräftiger als jemals zuvor. Doch dieses Gefühl hielt nur einen Tag an. Es dauerte zwei Wochen, dann schwamm ich jede Nacht.
    Ich seufze, rolle mich auf den Bauch und stütze mich auf die Ellbogen. Vielleicht ist es etwas makaber, hier im Gras zu liegen, nur knapp zwei Meter über den Toten. Vielleicht wäre jeder entsetzt, der mich so sehen würde. Aber ich brauche diese Zeit mit Steven, sonst würde ich verrückt werden. Zum Glück ist sein Grab hinter Büschen und einer Trauerweide vom Gehweg aus nur schwer zu sehen. Falls sich mir jemand nähern sollte, bemerke ich ihn, bevor er mich entdeckt.
    Ich fahre mit dem Finger die Inschrift auf Stevens Grabstein nach. Steven Goode. Geliebter Sohn, Bruder und Freund. In der unteren Ecke ist ein Football abgebildet. Steven mochte Football gar nicht, doch das weiß niemand außer mir. Nur seinem Dad zuliebe hat er trainiert. Denn der war in seiner Highschool- und Collegezeit Footballspieler, hat es aber nie zum Profi gebracht. Als Steven begann, mir Dinge anzuvertrauen, die sonst keiner wissen durfte, machte ich mir zum ersten Mal Hoffnungen, dass er mich mochte. Mein eigenes Geheimnis habe ich ihm dagegen nie verraten. Drei Jahre lang hatte ich ihn angehimmelt. Und gerade in dem Augenblick, als sich endlich etwas zwischen uns zu entwickeln begann, habe ich ihn getötet.
    Ich stelle das kleine Modellauto auf sein Grab. Dann küsse ich meine Fingerspitzen und berühre den Grabstein. Für einen Augenblick ruhen meine Finger auf dem Marmor und ich frage mich zum tausendsten Mal, wie es gewesen wäre, mehr als nur einen Moment mit ihm zusammen zu sein. Ich frage mich zum tausendsten Mal, ob er mich auf die gleiche

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