Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Stühlen ging. Was stehe ich auch so sinnlos hier herum?
Erneut fröstelnd zog sie ihre Jacke an und streifte die Kapuze über. Der schwarze Stoff beschirmte sie vor mitleidigen Blicken, sperrte Regen, erdrückende Häuserwände und finstere Baumwesen aus. Die Augen auf den glänzenden Asphalt gerichtet, schlug sie den Weg zur Seine ein. In der Sprachschule hatten andere Kursteilnehmer von einer Bar im Marais-Viertel geschwärmt, wo sie ihre Abende verbrachten. Vielleicht würde sie dort Tereza aus Prag oder die lustige Italienerin Francesca treffen – irgendjemanden, der sie eine Weile von dem Abgrund weglockte, an dem sie entlangbalancierte.
Sie musste den Blick nicht heben. Zur Brücke Saint-Michel ging es immer geradeaus. Gedankenverloren nahm sie die hinter einem mannshohen Gitterzaun und ein paar Bäumen versteckten Ruinen der römischen Thermen nur aus dem Augenwinkel wahr, bevor die klobigen Bordsteine sie ermahnten, den auch bei Nacht belebten Boulevard Saint-Germain nicht blindlings zu überqueren. Ab hier kannte sie sogar die Reihenfolge der Schaufenster und Straßenlokale auswendig, weil sie jeden Morgen auf dem Weg zur Métro an ihnen vorüberkam.
Sie hatte gehofft, dass die Sprachschule und die Suche nach einem Job sie von ihrer Trauer ablenken, dass sie ihr helfen würden, die Zeit mit Rafe zu vergessen und ein neues Leben anzufangen. Stattdessen fühlte sie sich einsamer denn je. Wie hätte sie ahnen sollen, dass so vieles in dieser Stadt sie an den einen kurzen Urlaub erinnerte, den sie hier mit ihm verbracht hatte? Sie hörte den Springbrunnen am Place Saint-Michel auf der anderen Straßenseite rauschen, und schon stieg das Foto aus ihrem Gedächtnis auf, das Rafe dort von ihr gemacht hatte.
Im Nachhinein betrachtet kam ihr das Bild beinahe prophetisch vor. So klein und verloren hatte sie zwischen den beiden geflügelten Drachen gestanden, die Wasser statt Feuer spien und gegen den schwertschwingenden Erzengel Michael in ihrer Mitte dennoch nur wie gehorsame Wachhunde wirkten. Hoch ragte der bronzene Streiter hinter ihnen auf, und Sophie fühlte sich wie die hingestreckte Gestalt zu seinen Füßen – von den Mächten des Schicksals geschlagen, besiegt und in den Staub geworfen. Was blieb ihr denn noch?, fragte sie sich, während sie über die Brücke zur Île de la Cité ging. Der Tod hatte ihr die Liebe ihres Lebens entrissen. Sie hatte Wohnung und Job in Stuttgart gekündigt, um nach der Hochzeit mit Rafe nach Hamburg zu ziehen. Nach der Hochzeit, die niemals stattgefunden hatte. Statt als Braut in Weiß vor den Altar zu treten, hatte sie in Schwarz vor einem Sarg gestanden, mit einem Rosenstrauß in der Hand.
Sophie kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Was sollten Tereza und Francesca denken, wenn sie mit verheulten Augen in der Bar auftauchte? Die beiden nutzten ihren Fortbildungsurlaub, um sich kopfüber ins Pariser Nachtleben zu stürzen. Mit geröteten, von Müdigkeit umschatteten Augen saßen sie tagsüber in ihren Kursen und kämpften gegen die einschläfernde Wirkung von Monsieur Oliviers Stimme an, wenn er sich in ausufernden Reden über die wachsende Bedeutung der internationalen Finanzmärkte für die französische Wirtschaft verlor.
Sophie nahm an, dass die anderen auch sie für übernächtigt hielten, wenn sie blass und mit verquollenen Lidern in der Schule erschien. Sie wollte nicht mit Fremden über Rafael sprechen, die ihn nicht gekannt hatten und deshalb nicht ermessen konnten, was er ihr noch immer bedeutete. Das hatte sie in den letzten Wochen oft genug erlebt. Wenn die Leute peinlich berührt ihre Anteilnahme versicherten und hinterihrem Rücken mitleidig über sie flüsterten, fühlte sie sich nur noch schlechter.
»Merde!«
Der laute Fluch riss Sophie aus ihren Gedanken. Die Stimme ertönte hinter einem zerfledderten Schirm, der sich umso abenteuerlicher spreizte und verbog, je heftiger sein Besitzer darum kämpfte, ihn zu öffnen. Wie eine Fledermaus aus Draht und Polyester flatterte er an ihr vorüber. Erst jetzt bemerkte Sophie, dass der Regen wieder stärker geworden war. Die Tropfen landeten auf ihrer Kapuze, als würden sie anklopfen, bevor sie sich anschickten, durch den Stoff auf ihr Haar vorzudringen. Besorgt blickte sie auf. War es noch weit bis zur Rue Vieille du Temple? Sie sah sich um, doch die schmale Straße, der sie gefolgt war, ohne darüber nachzudenken, kam ihr nicht bekannt vor. Bars und Cafés, aus denen Musik und Stimmengewirr
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