Der Kuss des Morgenlichts
Haderte sie damit, dass sie es gewesen war, die ihn getötet hatte? Oder versuchte sie, jeden Gedanken daran zu verdrängen?
Ich hatte seit den Ereignissen auf dem Berggipfel nicht mehr mit ihr gesprochen und mich auch bis jetzt zurückgehalten. Doch nun wandte ich vorsichtig ein: »Das Wichtigste ist doch, dass sie lebt.«
»Ja«, murmelte Cara, »ja, sie lebt … aber wie? Als was?«
Sie warf Nathan einen hilfesuchenden Blick zu. »Vielleicht sollten wir die Alten fragen.«
»Die Alten?«, fragte ich verwirrt.
»Die Nephilim der Urzeiten«, erklärte Nathan. »Sie wirken meist im Geheimen, zeigen sich der Welt so gut wie nie. Cara ist von ihnen geprüft worden, sonst wäre es ihr nie gestattet worden, die Seiten zu wechseln und mit den Wächtern zu kämpfen.«
»Sie wissen vielleicht, was wir mit Aurora tun sollen«, gab Cara zu bedenken.
Nathan schüttelte energisch den Kopf. »Wir tun erst mal gar nichts! Was geschehen ist, geht die Alten nichts an.«
Meine Gedanken lahmten – nur vage konnte ich mich an Nathans Worte erinnern, als er davon erzählt hatte, wie er sich geweigert hatte, seiner Mission nachzugehen, um stattdessen lieber Cellist zu sein. Das hatte viele Wächter erzürnt – wahrscheinlich auch die Alten.
Er vertiefte das Thema nicht. »Wir können uns später immer noch den Kopf über Auroras Zustand zerbrechen. Vorerst müssen wir besprechen, was Sophie der Polizei erzählen wird. Sie wird bald befragt werden, und dann muss sie die Geschichte, die wir uns ausgedacht haben, bestätigen – die Geschichte, warum so viele Polizisten in der Villa den Tod fanden. Und warum Nele … «
Mit einem Ruck fuhr ich auf. Es war seit langem die erste rasche Regung. »Mein Gott, Nele!«, stieß ich aus. »Ich habe versprochen, mich bei ihr zu melden, sobald es Aurora besser geht!«
Cara nahm beruhigend meine Hand. »Mach dir keine Gedanken, ich habe mit ihr telefoniert.«
»Aber sie kennt dich doch gar nicht!«
»Nun, nachdem ich ihr erklärt habe, was passiert ist … «
Mir fielen Neles Worte an Auroras Krankenbett wieder ein. In was bist du nur hineingeraten?
Damals war ich zu kraftlos gewesen nachzufragen, jetzt wollte ich wissen: »Was habt ihr ihr denn erzählt?«
»Das Gleiche, was du nun auch der Polizei erzählen musst.«
»Ahnt sie von den … von den Nephilim?«
»Nein«, sagte Nathan schnell, und auch Cara schüttelte den Kopf. »Sie ist von ausnehmend kräftigen Männern auf einen Berg verschleppt worden und ist dort Zeugin eines merkwürdigen Kampfes mit Schwertern geworden. Das ist alles.«
»Du musst genau zuhören, was Nathan und ich uns überlegt haben«, sagte Cara, »und du musst das alles gegenüber der Polizei bestätigen, hörst du, Sophie?«
Ich nickte, versuchte mich zu konzentrieren.
»Caspar war demnach Anführer einer Sekte«, fuhr Cara fort, »einer ziemlich obskuren und gefährlichen Gemeinschaft, die irgendeinem alten Kult folgte, der hier um den Hallstättersee, wo die Vergangenheit so lebendig scheint, besonders wirkungsvoll zu sein verspricht. Die Mitglieder nutzten mittelalterliche Waffen – also auch Schwerter … «
»Und warum sollen sie damit all die Leute umgebracht haben?«, unterbrach ich sie.
»Was das anbelangt, kannst du teilweise ruhig bei der Wahrheit bleiben. All die Opfer – so auch die Polizisten in deiner Villa – wurden ermordet, weil die Mitglieder der Sekte dem Wahn verfallen waren, sie könnten sich auf diese Weise ihre Kräfte einverleiben. Du, Sophie, warst kurz von diesem dunklen Kult fasziniert, doch als du mehr darüber erfahren hast, hast du dich sofort distanziert. Man ließ dich nicht so einfach gehen, sondern hat dich stattdessen gehörig unter Druck gesetzt, indem man deine Tochter entführt und deine Villa verwüstet hat. Aus Angst um Aurora konntest du der Polizei nicht die Wahrheit sagen. Nathan und mich hingegen – alte Freunde von dir – hast du eingeweiht, und wir haben dir geholfen, Aurora zu befreien. Der Anführer der Sekte, Caspar von Kranichstein, ist daraufhin völlig durchgedreht – wahrscheinlich stand er unter Drogen – und hat erst alle anderen Sektenmitglieder, dann sich selbst umgebracht.«
»Das klingt ziemlich verrückt!«
»Aber manche Details entsprechen durchaus den Tatsachen! Die vielen Toten sind durch das Schwert gestorben – und ich habe meines der Polizei sogar als Beweisstück überlassen. Es ist so schwer, dass man weder mir noch dir jemals zutrauen würde, es zu halten, geschweige
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