Der Kuss des Morgenlichts
ausgetauscht, sondern es waren lediglich behelfsmäßig Holzplatten davorgenagelt worden, aber ansonsten hatte jemand gründlich aufgeräumt und alle Spuren des Kampfes beseitigt.
Staunend blickte ich mich um, während Nathan nicht sonderlich überrascht wirkte. »Wahrscheinlich hat sich Cara um alles gekümmert … «
Cara, der gute Geist der letzten Wochen, der ich gar nicht genug danken konnte.
Mittlerweile hatte sie – wie angekündigt – Hallstatt verlassen. Wehmut stieg in mir auf, die ich im Augenblick des Abschieds noch nicht so stark gespürt hatte – Wehmut und auch ein bisschen Verzagtheit. Wie sollte ich alles ohne sie schaffen? Wie zurück in die Normalität finden? Weitere Verhöre der Polizei aushalten, die auch nach meiner ausführlichen Aussage immer wieder nachbohrte? Wieder Kontakt mit Nele aufnehmen und um unsere Freundschaft kämpfen? Bis jetzt hatte ich das noch vor mir hergeschoben.
Ich seufzte, zwang mich dann aber, von Raum zu Raum zu gehen und möglichst nicht an all den Schrecken zu denken, den ich hier hatte durchstehen müssen, nicht an die Geschöpfe, die hier gestorben waren. Ich wusste nicht, ob ich es ertragen würde, länger in diesem Haus zu leben, aber während ihrer Genesungszeit war Aurora hier auf dem Land besser aufgehoben als in unserer Salzburger Wohnung, und ich war entschlossen, das Beste daraus zu machen.
Nach meinem Gang durchs Haus betrat ich den Garten. Der Boden war zerwühlt, Felsbrocken und Geäst bedeckten den Rasen, der Zaun hing an einer Stelle schief. Ich ignorierte das Chaos, setzte mich stattdessen seufzend auf die Bank, die heil geblieben war, und bald nahm auch Nathan dort Platz. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Es war Abend geworden, der Himmel nicht mehr tiefblau, sondern blassviolett, von einigen Wolken bedeckt, die weniger schneeweißen Bergen glichen als durchsichtigen Fäden. Noch schimmerte durch die Bäume dunkelgrün der See, doch mit dem schwindenden Licht erlosch auch das letzte Glitzern, und er wurde so schwarz wie der Wald. Ich starrte auf das Dickicht der Bäume, das wie immer um diese Tageszeit einem undurchdringlichen Labyrinth glich. Doch nun gab es niemanden mehr, der heimlich dort stehen und mich und Aurora beobachten konnte, der nur darauf wartete, mich zu seiner Frau und sie zu seinem Kind zu machen.
Ich atmete tief die frische Luft ein, fühlte, wie ich mich entspannte und wie zugleich die Fragen hochstiegen, die ich in den letzten Tagen vor mir hatte herschieben können.
»Und jetzt?«, sagte ich zu Nathan.
Er antwortete nicht. Seine blauen Augen wirkten glanzlos. Unwillkürlich rückte ich näher an ihn heran, spürte seinen kräftigen, sehnigen Körper.
»Und jetzt?«, fragte ich wieder.
»Ich bin, wer ich bin«, murmelte er. »Ich kann mir nichts vormachen – und dir auch nicht. Ich bin kein Cellist, ich bin ein Nephil. Wenn ich es nur schon früher akzeptiert hätte! Dann wäre vielleicht alles anders gekommen, dann hätten nicht so viele Menschen das Leben lassen müssen!«
»Komm gar nicht erst auf die Idee, dir die Schuld daran zu geben!«, rief ich energisch. »Das waren Caspars Taten, nicht deine. Und jetzt ist er tot und kann nie wieder einem Menschen etwas zuleide zu tun. Daran solltest du denken und dass das nicht zuletzt dir zu verdanken ist! Und du lebst! Genau wie Aurora.«
Er nahm schweigend meine Hand und drückte sie. »Ja, sie lebt, aber wie wird es mit ihr … mit uns weitergehen?«
Ich sah an ihm vorbei in die Ferne, als ich langsam die Möglichkeiten aufzählte, die sich uns boten. Ich hatte schon länger darüber nachgegrübelt, aber noch nicht gewagt, sie nüchtern zu benennen. »Es gibt vier Möglichkeiten. Du bleibst bei uns, und es hat keine Auswirkung auf Aurora, sondern sie wird ein normaler Mensch. Du bleibst bei uns, und sie beginnt sich wieder zu verwandeln. Du verlässt uns, und sie bleibt ein Menschenkind. Du verlässt uns, und dennoch setzen Veränderungen ein. Vielleicht nur schwache und sie wird nur vage spüren, dass irgendetwas in ihr schlummert, was sie nie ganz begreifen und nie ganz lenken können wird.«
Nathan seufzte. »Ich möchte so gerne, dass sie glücklich wird.«
»Ja, wenn wir nur wüssten, wie«, rief ich und konnte die Verzweiflung in meiner Stimme kaum zurückhalten. »Wie soll sie denn glücklich werden? Als Mensch? Als Nephila?«
»Ich möchte ihr so gerne die Zerrissenheit ersparen.«
»Aber kannst du es auch? Hast du mir nicht selbst gesagt,
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