Der Kuss des Morgenlichts
denn, damit jemanden zu töten. Niemand wird uns also mit den Morden in Verbindung bringen, im Gegenteil! Und Nathan wird sowieso nicht verdächtigt. Er ist laut unserer Geschichte erst nach Hallstatt gekommen, nachdem Aurora bereits entführt worden war, und niemand kann bezeugen, dass er schon früher in deiner Villa gewesen ist … «
»Aber wenn sie Caspars Leichnam finden, werden sie doch sehen, dass er sich nicht selbst umgebracht hat, sondern … «
Ich brach ab, wollte den Satz nicht zu Ende bringen.
Cara senkte den Blick. »Sie werden seinen Leichnam nicht finden«, erklärte sie knapp. Nathan blickte sie überrascht an; offenbar wusste er nichts davon.
Sie ließ ihren Kopf gesenkt, aber erklärte entschlossen: »Ich tat, was ich tun musste, und ich bereue es nicht. Ich war es meinem … Bruder schuldig, dass er nicht irgendwo unter den Händen eines Pathologen landet.«
»Wohin hast du seinen Leichnam geschafft?«, fragte Nathan.
»Das soll mein Geheimnis bleiben«, murmelte Cara. Endlich hob sie den Kopf wieder, hielt Nathans prüfendem Blick mit ausdruckslosem Gesicht stand und erhob sich schließlich. Er stellte keine Fragen mehr, und auch ich wollte nicht daran rühren, was hinter dieser hohen, glatten Stirn vorging.
»Ich werde so lange hier bleiben, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind«, erklärte Cara scheinbar gleichmütig. »Wenn nötig, werde ich meine Aussagen wieder und wieder bestätigen. Aber danach hält mich nichts mehr in Hallstatt. Meine Aufgabe hier ist erledigt. Es ist eure Entscheidung, was mit Aurora geschehen soll.«
»Aber wohin willst du gehen?«, rief ich betroffen. »Aurora mochte dich so gern, und auch wenn sie dich jetzt nicht mehr erkennen würde, so glaube ich doch … «
Cara hob abwehrend die Hand. »Ich brauche dringend eine Veränderung. Und etwas Abstand. Es war doch alles sehr … viel.«
Erstmals verdunkelte Trauer ihr Gesicht und ließ ihre Stimme brechen – vielleicht galt sie Caspar, vielleicht der Last, mit der sie zu leben hatte. Doch anstatt ihr nachzugeben, schluckte sie heftig und trat zur Tür.
Ehe sie die Cafeteria verließ, wandte sie sich ein letztes Mal an mich: »Sophie, bevor das alles geschehen ist, war ich mit Nathan uneins, wie Auroras Zukunft aussehen sollte. Er wünschte sich, dass sie ein normales Leben führen könnte, während ich ihre Verwandlung für unausweichlich hielt. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Es könnte sein, dass dieser Unfall sie zu einem normalen Menschen gemacht hat. Mag sein, dass das Erbe noch in ihr schlummert, mag sein, dass es irgendwann doch hervorkommt, aber vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Und ich weiß nicht, was es für … euch bedeutet.«
Sie fügte nichts hinzu, aber ich begriff, was sie meinte. Auroras Verwandlung war vorerst gestoppt, vielleicht für immer, vielleicht nur vorübergehend. So oder so war ihre Chance auf ein normales Leben größer, wenn keiner der Nephilim in ihrer Nähe lebte.
Ich trat auf Cara zu und umarmte sie schweigend, und als ich ihr nachblickte, fühlte ich Verzweiflung in mir aufsteigen. Bis jetzt war ich überglücklich gewesen, dass alles heil überstanden war und es meinen Liebsten gut ging – nun erkannte ich, dass das Schwerste vielleicht noch bevorstand – die Entscheidung, ob es für Nathan und mich eine gemeinsame Zukunft geben konnte oder nicht.
Nathan schlug in den kommenden Tagen öfter vor, für ein paar Stunden nach Hause zu fahren, doch jedes Mal weigerte ich mich, Aurora auch nur für kurze Zeit zu verlassen. Ich wollte keinen Augenblick an ihrem Bett versäumen, wollte mich jede Sekunde davon überzeugen, dass es ihr von Tag zu Tag besser ging. Jeder noch so kleine Fortschritt fühlte sich wie ein Triumph an: Als sie sich zum ersten Mal aufsetzen und später sogar aufstehen konnte, als sie wieder selbständig und mit Appetit aß, als sie längere Zeit wach blieb, ohne zu ermüden. Erst als der behandelnde Arzt ihre baldige Entlassung in Aussicht stellte, gab ich Nathan nach. Schließlich galt es, die Villa für Auroras Heimkehr vorzubereiten.
Bisher hatte ich keinen Gedanken an ihren verwüsteten Zustand verschwendet, an die vielen Glassplitter, den Baumstamm im Wohnzimmer, das Blut der Toten. Erst jetzt begann ich zu überlegen, wie lange es dauern und wie viel es kosten würde, das Chaos zu beseitigen. Doch als Nathan mich heimbrachte, war nichts davon zu sehen. Die zerstörten Fenster waren zwar noch nicht
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