Der Kuss des Verfemten
sich.
»Wachen! Vater! Helft mir doch!«, schrie Isabella in höchster Not und wehrte sich verzweifelt gegen Gundrams brutalen Griff. Die Umstehenden wichen vor den gezogenen Schwertern zurück, sodass Gundram unbehelligt in den Burghof gelangen konnte.
Mathilda lief verzweifelt hinter Isabella her. »Herrin! Isabella! Ich werde Euch nicht verlassen!« Sie holte Gundram ein und klammerte sich an Isabella fest.
»Lass los, du Weibsstück!«, rief Gundram und schlug mit dem Schwert nach ihr, doch er traf nicht. Mathilda ließ nicht los, und jetzt klammerte sich auch Isabella mit ihrem freien Arm an Mathilda.
»Verlass mich nicht, hilf mir!«, flehte Isabella.
»Ich verlasse Euch nicht. Wenn wir sterben, sterben wir gemeinsam!«
Woher Mathilda plötzlich den Mut nahm, wusste Isabella nicht, aber es war ihr im Augenblick egal. Es war ihr einzig tröstlicher Gedanke, dass sie jemanden bei sich hatte, an den sie sich klammern konnte.
Mit verbissenem Gesicht starrte ihnen de Cazeville hinterher. Er stieß einen leisen, aber hasserfüllten Fluch aus. Dann ging er ohne besondere Eile zu den Ställen, um sein Pferd zu satteln.
Sechstes Kapitel.
Plopp! – Plopp! – Plopp!
»Ich werde noch verrückt!«, schrie Isabella und presste ihre Hände auf die Ohren.
Plopp! – Plopp! – Plopp!
Mathilda seufzte. Beide hockten sie auf einer harten Holzpritsche und starrten in die Dunkelheit, in der irgendwo Wasser in nerventötender Regelmäßigkeit herabtropfte.
Warum hatte alles so kommen müssen? Warum wandte sich das Schicksal so grausam gegen sie?
Natürlich war es Isabellas Schuld, darüber war sich Mathilda völlig im klaren. Hätte sie Gundram ihr Tüchlein zugeworfen und sich ihm nicht als Braut verweigert, würden sie jetzt in der hellen und freundlichen Kemenate auf der herzoglichen Burg sitzen, am Hochzeitskleid nähen und kichernd und verschämt all die Geschichten um die Hochzeitsnacht erzählen, die sie aus frivolen Erzählungen der Mägde und Knechte erfahren hatten. Und sie würden Isabella Glück wünschen und Gesundheit und viele hübsche Kinder. Und wenn sie Gundram wirklich nicht mochte, dann hatte sie immer noch Gelegenheit, sich in ihre privaten Gemächer zurückzuziehen oder ihren Gatten zu irgendwelchen Scharmützeln in die weite Welt hinauszuschicken. Ritter waren zum Kämpfen da und nicht dazu, sich in ihrer Burg einem faulen Leben hinzugeben.
Statt dessen jagte Isabella einem Hirngespinst nach, einem Ritter, der offensichtlich gar keiner war, den niemand kannte und dessen Namen und Wappen nicht existierten. Gleichwohl hatte Mathilda ihn gesehen, seiner klangvollen Stimme und seinem zu Herzen gehenden Lied gelauscht, sie hatte in seine blauen Augen geblickt und seine blonden Locken bewundert. Doch jetzt, in der Tiefe dieses feuchten Kerkers, war sie sich gar nicht mehr sicher, ob er ein Mensch aus Fleisch und Blut war oder ob das alles ihrer Fantasie entsprungen war, ihrem Wunschdenken, mit dem Isabella auch alle anderen verrückt gemacht hatte. Und nun saßen sie für nichts und wieder nichts in diesem grässlichen Turm. Es war kalt, modriger Geruch stieg vom Boden auf, und neben der Dunkelheit fürchtete Mathilda am meisten das ekelhafte Getier, das eine solche Umgebung besonders liebte: Ratten, Mäuse, Spinnen, Käfer, Würmer …
Gequält stöhnte sie auf. Was nützte es, Isabella Vorwürfe zu machen? Die Prinzessin hockte ebenso unglücklich und verzagt neben ihr, zitterte vor Kälte und Angst und wünschte sich wohl zum tausendsten Mal zurück in ihr weiches und warmes Bett, auf die Burg ihres Vaters mit dem goldglänzenden Prunksaal, den schönen Laubengängen, die zum Lustwandeln einluden, der schattigen Weinlaube und dem romantischen Rosengarten. Warum träumte Isabella nur von Liebe? Für Mathilda war es ein fremder, abstrakter Begriff, den sie nicht in ihr Leben einordnen konnte. Selbst Isabella hatte immer wieder betont, dass es nur eine wahre Liebe gab, die Liebe zu Gott! Alles andere war nur ein niederes Gefühl, das durch die fleischliche Begierde geweckt wurde. Zwar liebte Mathilda auch Isabella als ihre Herrin, ihre Schwester, ihre Freundin. Doch es war eine andere Liebe, und manchmal wurde diese Liebe auf eine harte Probe gestellt. War es Liebe zu Isabella, war es Pflichtschuldigkeit, Treue, dass sie sich freiwillig hier mit ihr begraben ließ? Genauso gut hätte sie am Hof des Herzogs bleiben, mit den anderen um Isabella weinen und Gundram zürnen können. Der Teufel musste
Weitere Kostenlose Bücher