Der Kuss Im Kristall
1818
Konnte es einen größeren Gegensatz geben als den zwischen diesen Gerüchen und Geräuschen und dem engen Verlies in Afrika, dem er soeben entronnen war? Lord Robert McHugh, vierter Earl of Glenross, zog seinen Überrock aus und reichte ihn dem Lakaien. Die Luft war erfüllt von dem Duft nach Immergrün, vermischt mit dem köstlicher Kanapees und heißen gewürzten Weins. Aus dem angrenzenden Raum waren leise Orchestermusik und höfliches Gemurmel zu hören. Neben ihm versuchte Lord Ethan Travis noch immer, die Gründe darzulegen, warum Robert davon absehen sollte, heute Abend diese Soiree zu besuchen.
„Dazu bist du noch nicht bereit, McHugh. Du bist erst seit vierzehn Tagen wieder in London. Lass dir noch etwas Zeit, ehe du …“
„Ich habe keine Zeit, Travis“, erwiderte Robert, der von seinen Freunden meist „Rob“ oder einfach nur „McHugh“ genannt wurde. „Die habe ich in Algier vertan.“
„Du musst dich erst wieder mit der Gesellschaft vertraut machen. Wenn du hereinstürmst, wo man auf Zehenspitzen gehen sollte …“
„Meinst du, die Gesellschaft sollte sich erst mit mir vertraut machen?“ Rob lächelte angesichts der Besorgnis des Freundes.
Ethan warf ihm einen verzweifelten Blick zu. „Wenn ich du wäre, würde ich mich zu einem Barbier begeben. Deine Locken sind länger als die Byrons. Und deine Gefühle so schroff wie ein Wintertag. Diplomatie war noch nie deine starke Seite. Unter diesen Umständen kann dir niemand einen Vorwurf machen, aber warum willst du dich dem Gerede aussetzen, dem Mitleid …“
Mitleid? Dagegen musste Rob etwas tun. Er wollte lieber gehasst werden als bemitleidet. „Woher die Besorgnis, Ethan? Das Außenministerium hat mich seit meiner Rückkehr isoliert. Zwei Wochen lang haben sie mich wieder und wieder befragt, um jedes noch so kleine Quäntchen Information zu erhaschen, das ich während meines, äh, Aufenthalts im Palast des Dey vielleicht aufgeschnappt habe. Es ist zu früh, als dass du Beschwerden über mich gehört haben könntest.“
„Dazu soll es auch gar nicht erst kommen.“
„Hat sich jemand über mein Benehmen beklagt?“, fragte Rob.
„Wenn du willst, kann dein Benehmen mustergültig sein, Rob. Für deinen Ruf gilt das nicht. Und du hast kaum etwas dagegen unternommen. Es ist geradezu legendär, wie entschlossen du ein Ziel ins Auge fasst und wie wenig du dich dabei von deinem Gewissen leiten lässt. Aber hätte ich das erlebt, was du in den letzten Jahren und vor allem in diesen letzten sechs Monaten durchmachen musstest, dann wäre ich noch nicht dazu fähig, mit Debütantinnen zu kokettieren und höfliche Konversation zu betreiben.“
Rob drängte die Erinnerungen zurück. Es durfte nicht passieren, dass die Geister der Vergangenheit ihn an dem hinderten, was er heute vorhatte. „Deine Sorge ist unbegründet, Ethan.“
„Ich weiß, du willst diese Madame Zoe finden und zur Strecke bringen, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Rob.“
„Einen besseren wird es nicht geben“, erwiderte er. „Aber habe keine Angst. Ich werde keine Szene machen. Ganz im Gegenteil. Ich werde meine Absichten geheim halten. Es ist dumm, ins Horn zu blasen und so den Fuchs zu verjagen.“
Ethan räusperte sich. „Mrs. Forbush ist eine enge persönliche Freundin meiner Frau. Heute Abend wird sie ihre Nichte Miss Dianthe Lovejoy der Gesellschaft präsentieren. Wenn irgendetwas missrät, wird sie außer sich sein.“
„Du bedauerst doch nicht, mir eine Einladung verschafft zu haben?“, fragte Rob. „Was sollte schon missraten?“
„Gütiger Himmel, McHugh. Kannst du nicht ernst sein?“
Rob lachte freudlos. „Hat dich das Außenministerium gebeten, mich zu bewachen? Du hörst dich an wie Lord Kilgrew. Er drängte mich, mir Ruhe zu gönnen, ehe ich meinen – meinen Verpflichtungen nachgehe.“ Rob zupfte an den Locken in seinem Nacken und gestattete sich einen leisen Seufzer. In einem Punkt musste er Ethan wohl recht geben – er hätte sich das Haar schneiden lassen sollen.
Aber Ethan Travis hätte sich keine Sorgen machen müssen. Während der Monate, die Rob im Gefängnis von Algier verbracht hatte, war es ihm gelungen, seinen Zorn gegenüber jenen, die ihn auf diesen Weg geführt hatten, zu mäßigen. Ohne diese Selbstbeherrschung wäre er wie ein Feuersturm durch die Londoner Gesellschaft getobt auf der Suche nach der Information, die er brauchte.
Ethan hatte eine Überraschung für seinen Freund. „Weißt du, dass
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