Der Kuss
Ohne die Nachricht zu überprüfen stampfte er durch den Flur, drückte, ohne den Hörer der Gegensprechanlage abzunehmen, auf den Öffner, machte die Tür auf und lehnte sie nur an. Als er sich umdrehte erschrak er fast zu Tode. Seine Mutter stand vor ihm, gähnte, und fragte verwundert:
„Was
tust
du da?“
„Ich, ähm, ich …“, erklärte Michael, drückte unauffällig die Tür hinter sich wieder zu und verbarrikadierte sich erneut in seinem Zimmer.
Gerade als er sich wieder so richtig schön eingerollt hatte, erinnerte er sich an die Nachricht. Wenn es keine
'Du böser Sohn hast deine arme Mutter ausgesperrt' -
SMS war, von wem stammte sie dann? Es hätte, rein theoretisch, auch die Benachrichtigung zur Handyrechnung sein können, dennoch tastete er nach dem Telefon und das kleine Display erleuchtete den sonst stockfinsteren Raum. Die Nachricht war von Lukas! Michaels Herz machte sofort einen Hüpfer und er setzte sich atemlos auf, um sie zu öffnen.
>
Reden?
stand da als einziges Wort.
Michael konnte nicht anders, als ein Jauchzen loszulassen. Das hieß doch, dass es noch nicht
ganz
vermasselt war, oder? Das hatte doch etwas
Gutes
zu bedeuten, dass Lukas mit ihm reden wollte, oder? Michael tippte eine Antwort, dabei schlug sein Herz so laut, dass er befürchtete, die Nachbarn würden sich bald beschweren, dass sie bei diesem Gepolter nicht schlafen könnten. Seine Finger zitterten so heftig, dass er sich andauernd vertippte.
>Wo.?# ,Wabnn?
, tippte er.
Verdammt. Die Fehler nahm er erst nach dem Abschicken wahr. Keuchend, als liefe er einen Berg hoch, wiederholte er die Fragen, tippte und vertippte sich wieder, als das Handy einen weiteren Signalton von sich gab und dabei kurz vibrierte. Vor Schreck ließ Michael das Handy fallen.
>Jetzt gleich?
, kam als Antwort.
Durch Michaels Bauch wummerte eine Autobahn, und vor Aufregung wurde er auch gleich hart.
Nur reden
ermahnte er sich. Er sprang hoch, schaltete das Licht an und überprüfte sein Aussehen vor dem Spiegel. Er hob die Arme und schnupperte unter den Achseln, riss sich das Shirt über den Kopf und zog sich ein frisches über. Dann zog er es wieder aus, stolperte ins Bad, wusch sich rasch unter den Armen, fragte sich, was wäre,
wenn …
zog sich aus und duschte schnell, ließ dabei das Shampoo fallen, dann das Duschgel, schlug mit dem Ellenbogen gegen die Duschwand.
„Was ist los?“, fragte seine Mutter und lugte ins Bad.
„Geh raus!“, dröhnte Michael. Sie musste seine Latte nicht sehen! Hastig trocknete er sich ab, schlüpfte in die frische Kleidung, sorgte dafür,
phänomenal
zu duften und erstarrte. Er hatte Lukas gar nicht geantwortet! Er wusste gar nicht,
wo
sie sich treffen wollten. Mit hochrotem Kopf und
„Nein, nein, nein …“
stammelnd flitzte er in sein Zimmer und grapschte nach dem Telefon, als müsse er mit einer SMS einen Atomkrieg verhindern. In der Zwischenzeit waren drei neue Nachrichten eingegangen.
>Bei mir?
>Ist das ein Ja?
>Dann eben nicht.
Michael zerfiel beinahe zu Staub. Hektisch begann er auf den Tasten herumzudrücken, aber er wusste nicht genau, was er schreiben sollte.
„
Michael?“,
hörte er auf einmal eine verzerrte Stimme. Als vermute er einen Geist, sah er sich erst einmal um, ehe er registrierte, dass die Stimme aus seiner Hand kam – genauer – dem Telefon. Er hob es so vorsichtig an sein Ohr als erwarte er, dass es jeden Moment explodieren könne.
„Ja?“, fragte er.
„
Was ist?“
Lukas. Michael war so perplex, dass er keinen Ton rausbrachte.
„
Warum rufst du mich an?“,
ertönte noch einmal Lukas' Stimme. Er sprach leise und versuchte, gleichgültig zu klingen, aber er konnte das hoffnungsvolle Aufflackern in seinem Ton nicht verbergen. Offensichtlich hatte sich Michael verdrückt, als er an der SMS herumformuliert hatte.
„Ich wollte dich nicht anrufen“, war das Erste, das er herausbrachte.
„
Oh, okay.“
Lukas klang enttäuscht.
„Nein, warte, so hab ich das nicht …“, rief Michael, doch da ertönte schon ein
'Klack'
und danach das Freizeichen. Scheiße! Michael schlug sich gegen die Stirn. Mittlerweile schwitzte er wieder am ganzen Körper, stand auf, setzte sich hin, stand auf, setzte sich hin, wählte endlich erneut die Nummer.
Lukas ging nicht ran.
Michaels Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er versuchte es gleich nochmal. Nichts. Lukas hob nicht ab. Beim dritten Mal ertönte die Stimme vom Band und teilte mit, dass der Teilnehmer nicht erreichbar wäre.
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