Der Landarzt (German Edition)
Stall.
»Habt Mut, meine arme Pelletier,« sagte diese.
»Ach, meine liebe Frau; wenn man fünfundzwanzig Jahre mit einem Manne zusammengewesen ist, dann ist's sehr hart, voneinander zu gehen!«
Und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Bezahlt Ihr die zwei Sous?« fügte sie nach einer Pause, ihrer Nachbarin die Hand hinhaltend, hinzu.
»Ach, halt, ich vergaß!« sagte die andere Frau und gab ihr Geldstück hin. »Nun, tröstet Euch, liebe Nachbarin. – Ah, da ist Monsieur Benassis.« »Nun, arme Mutter, geht's besser?« fragte der Arzt.
»Gewiß, mein lieber Herr,« sagte sie weinend, »es muß wohl trotzdem gehen. Ich sage mir, daß mein Mann nicht mehr leidet. Er hat soviel gelitten! – Aber treten Sie doch ein, meine Herrn! – Jacques! Gib den Herren doch Stühle, auf, rühre dich. Bei Gott, geh, du wirst deinen armen Vater nicht wieder aufwecken und wenn du dort auch hundert Jahre stehenbleibst! Und jetzt mußt du für zweie arbeiten!«
»Nein, nein, gute Frau, lassen Sie Ihren Sohn in Ruhe; wir wollen uns nicht setzen. Sie haben da einen Jungen, der für Sie sorgen wird und wohl fähig ist, seinen Vater zu ersetzen.«
»So geh und zieh dich an, Jacques,« rief die Witwe, »sie werden ihn bald holen.«
»Gehen wir. Leben Sie wohl, Mutter,« sagte Benassis.
»Ihre Dienerin, meine Herrn.«
»Wie Sie sehen,« sagte der Arzt, »hat man den Tod hier als einen vorhergesehenen Unfall hingenommen, der den Lebenslauf der Familien nicht aufhält; und Trauer wird dort gar nicht getragen werden. In den Dörfern will niemand, sei es aus Armut, sei's aus Sparsamkeit, sich eine solche Ausgabe machen. Auf dem Lande gibt's daher keine Trauer. Die Trauer, mein Herr, ist weder ein Gebrauch noch ein Gesetz; sie ist etwas viel Besseres: eine Einrichtung, die mit allen Gesetzen zusammenhängt, deren Beobachtung von ein und demselben Prinzip, nämlich der Moral, abhängt. Trotz unserer Bemühungen haben nun weder ich noch Monsieur Janvier unsern Bauern mit Erfolg begreiflich machen können, von welcher Wichtigkeit die öffentlichen Demonstrationen für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung sind. Diese braven, seit gestern emanzipierten Leute sind noch nicht fähig, die neuen Beziehungen zu verstehen, die sie mit diesen allgemeinen Vorstellungen verknüpfen sollen. Gegenwärtig sind sie nur für die Ideen zu haben, die Ordnung und physisches Wohlbefinden erzeugen; wenn später jemand mein Werk fortsetzt, werden sie zu den Prinzipien gelangen, die dazu dienen, die öffentlichen Rechte zu erhalten. Tatsächlich genügt es nicht, ein ehrenwerter Mann zu sein, man muß als ein solcher auch erscheinen. Die Gesellschaft lebt nicht allein durch moralische Ideen; um Bestand zu haben, bedarf sie in Einklang mit solchen Ideen stehender Handlungen. In den meisten ländlichen Gemeinden werden auf hundert Familien, die der Tod ihres Oberhauptes beraubt hat, nur einige wenige mit einer lebhaften Empfindsamkeit begabte Individuen diesem Toten ein langes Andenken bewahren, alle anderen aber werden ihn innerhalb eines Jahres vollkommen vergessen haben. Ist dieses Vergessen nicht eine große Wunde? Eine Religion ist das Herz eines Volkes, sie drückt seine Gefühle aus und vergrößert sie, indem sie ihnen ein Ende setzt; ohne einen sichtbar verehrten Gott aber existiert die Religion nicht, und demgemäß haben die menschlichen Gesetze keine Kraft. Wenn das Gewissen Gott allein gehört, fällt der Körper unter das soziale Gesetz. Ist's nun nicht ein beginnender Atheismus, wenn man so die Zeichen eines religiösen Schmerzes auslöscht, wenn man den Kindern, die noch nicht nachdenken, und allen Leuten, die der Beispiele bedürfen, nicht eindringlich die Notwendigkeit klarmacht, den Gesetzen, durch eine offenkundige Resignation den Ratschlüssen der Vorsehung gegenüber, die einen schlägt und tröstet, welche die Güter dieser Welt gibt und nimmt, zu gehorchen? Ich muß gestehen, daß ich, nach Tagen einer spöttischen Ungläubigkeit, hier den Wert religiöser Zeremonien, den Wert der Familienfeierlichkeiten und die Wichtigkeit der Gebräuche und Feste des häuslichen Herdes begriffen habe. Die Grundlage der menschlichen Gesellschaft wird immer die Familie sein. Dort beginnt die Aktion der Macht und des Gesetzes, dort wenigstens muß man den Gehorsam lernen. Mit allen ihren Konsequenzen betrachtet, sind der Familiengeist und die väterliche Macht zwei noch zu wenig entwickelte Prinzipien in unserem neuen Gesetzgebungssystem. Die
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