Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
deutlich.
Marianne blieb abrupt stehen. Prüfend schaute sie in das kleine Gesicht hinab. War das Kind an diesem Tag in Schwierigkeiten geraten? Hatten die Eltern geschimpft? In ihrer Naivität fand sie es unvorstellbar, dass jemand ein so zauberhaftes Geschöpf tadelte. »Ein bisschen später werde ich in die Halle gehen und dir zuwinken. Oder soll ich dich in deinem Zimmer besuchen?« Ein solches Versprechen war die einzige Möglichkeit, das Mädchen mit den flehenden Augen allein zu lassen, ihr Gewissen zu beruhigen.
Aber Gabriella schüttelte den Kopf. »Das dürfen Sie nicht.« Für ein solches Glück müsste sie einen zu hohen Preis zahlen, wenn die Mutter dahinter käme. Eloise suchte stets zu verhindern, dass ihre Freundinnen mit Gabriella sprachen. Noch schlimmer wäre es, wenn sie eine der Frauen im Kinderzimmer anträfe. Sie würde ihrer Tochter vorwerfen, sie belästige die Gäste, und ihr Zorn würde keine Grenzen kennen. »Das erlaubt Mommy nicht.«
»Mal sehen, ob ich mich irgendwann davonschleichen kann ...« Marianne begann die Stufen hinabzusteigen und warf ihr über die Schulter eine Kusshand zu. Wie eine weiße Wolke schien der Chiffonrock um ihre Hüften zu schweben. Auf halber Höhe der Treppe blieb sie stehen und drehte sich zu dem Kind um, das ihr nachschaute. »Ich komme noch einmal zu dir, Gabriella. Ganz bestimmt ...« Plötzlich spürte sie eine seltsame Kälte in ihrer Brust, ein unerklärliches Gefühl, und sie rannte fast die restlichen Stufen hinab, zu ihrem Mann.
Inzwischen trank er sein zweites Glas Champagner und unterhielt sich mit einem attraktiven polnischen Grafen, dessen Augen bei Mariannes Anblick aufleuchteten. Galant küsste er ihr die Hand, und Gabriella beobachtete die Szene, die einer Märchenwelt zu entstammen schien.
Während Marianne mit den beiden Männern zu den anderen Gästen schlenderte, wäre Gabriella beinahe hinuntergelaufen, um sich an sie zu klammern, um Trost und Schutz zu suchen. Marianne fühlte den Blick des Kindes, schaute ein letztes Mal nach oben und winkte ihm zu, ehe sie am Arm ihres Mannes im Wohnzimmer verschwand. Dabei lachte sie über eine Bemerkung des Grafen.
Als Gabriella das melodische Gelächter hörte, schloss sie die Augen, lehnte ihren Kopf an den Treppenpfosten und hing ihren Erinnerungen nach. In ihrer Fantasie sah sie ihr Spiegelbild mit der Tiara und Mariannes Lächeln und atmete den wundervollen Duft ihres Parfums ein.
Eine Stunde später trafen die letzten Gäste ein. Reglos saß Gabriella auf dem Treppenabsatz. Niemand entdeckte sie oder warf auch nur einen Blick nach oben. Gut gelaunt plauderten sie, legten ihre Mäntel ab, nahmen Champagnergläser entgegen und betraten den Wohnraum. Mittlerweile hatten sich über hundert Leute versammelt. Sie wusste, die Mutter würde nicht nach ihr sehen und annehmen, sie wäre längst eingeschlafen. Auf den Gedanken, ihre Tochter könnte ungehorsam sein und heimlich die Gäste beobachten, würde sie gar nicht kommen. »Bleib im Bett und rühr dich nicht!«, hatte sie befohlen. Doch die lockende Magie der Party war zu stark gewesen. Gabriellas Magen knurrte vernehmlich, und sie wünschte, sie könnte unbemerkt nach unten gehen und etwas essen. In der Küche hatte sie Pasteten und Kuchen und Schokoladentorten gesehen, einen großen Schinken, Roastbeef und einen Truthahn – auch Kaviar, der ihr nicht schmeckte. Einmal hatte sie einen winzigen Löffel probiert – viel zu fischig. Viel lieber würde sie Eclairs, ein Erdbeertörtchen oder einen dieser himmlischen Windbeutel verspeisen, die sie besonders gern mochte. Aber die Mutter gestattete ihr nicht, von den Köstlichkeiten zu naschen, die den Gästen serviert wurden. An diesem Abend waren alle beschäftigt gewesen, niemand hatte an Gabriellas Dinner gedacht. Natürlich konnte sie Mommy während der Vorbereitungen auf die Party nicht daran erinnern. Eloise blieb stundenlang in ihrem Ankleidezimmer, nahm ein ausgedehntes Bad, frisierte und schminkte sich. Für ihr Kind hatte sie keine Zeit gefunden, und das war gut so. Gabriella wusste, was geschehen würde, wenn sie um irgendetwas zu bitten wagte. Vor einer Party war die Mutter üblicherweise höchst nervös.
Jetzt drang die Musik etwas lauter in den Oberstock herauf. Einige Gäste tanzten am anderen Ende des großen Wohnzimmers. Auch im Speiseraum und in der Bibliothek hatten sich einige versammelt. Gabriella hörte Stimmen und Gelächter. Vergeblich wartete sie auf Mariannes Rückkehr.
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