Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Vielleicht war Gabriella für
sie
bestimmt gewesen und nur versehentlich bei ihren Eltern gelandet – oder weil sie so schlimm war und dauernd bestraft werden musste. Marianne würde niemanden verprügeln. Dafür war sie viel zu nett – vor allem jetzt, wo sie sich herabneigte und ihr einen Kuss gab. Wie köstlich sie duftete ... Gabriella hasste das Parfum ihrer Mutter.
»Kannst du nicht für eine Weile nach unten kommen?«, fragte Marianne. Am liebsten würde sie das kleine Mädchen auf den Arm nehmen und die Treppe hinabtragen. Gabriella hatte irgendetwas an sich, das ihr ans Herz griff und den Wunsch weckte, sie zu lieben und zu beschützen. Warum sie das empfand, wusste Marianne nicht. Jedenfalls schien Gabriella eine jener seltenen, fragilen Seelen zu besitzen, die man wie etwas unendlich Kostbares hegen und pflegen musste. Das erkannte Marianne, als sie die Hand des Kindes umfasste, die sich kalt und zerbrechlich anfühlte. Aber die Finger erwiderten den Druck erstaunlich kraftvoll, fast flehend.
»Nein, ich darf nicht hinuntergehen. Sonst wird Mommy sehr böse. Ich müsste schon schlafen.« Nur zu gut wusste Gabriella, welche Strafe ihr drohte, wenn sie um diese späte Stunde außerhalb ihres Betts ertappt wurde. Aber der Versuchung, die Partygäste ihrer Eltern zu beobachten, konnte sie niemals widerstehen. Manchmal erlebte sie dabei etwas ganz Besonderes, so wie an diesem Abend. »Ist das eine Krone, Mrs Marks?«, flüsterte sie. So musste sie Marianne anreden – oder mit »Tante Marianne«. Wenn sie die Freundinnen ihrer Mutter nur beim Vornamen nannte, wurde die geohrfeigt.
Marianne sah wie die gute Fee in »Aschenputtel« aus und Robert Marks, der geduldig am Fuß der Treppe wartete, wie der hübsche Prinz. Kichernd schüttelte sie den Kopf. »Dieser Schmuck heißt ‘Tiara’. Klingt albern, nicht wahr? Früher gehörte dieses edle Geschmeide meiner Großmutter.«
»War sie eine Königin?« Mit ernsthaften blauen Augen sah das Kind zu ihr auf. Dieser Blick krampfte ihr stets das Herz zusammen, wenn sie such nicht wusste, warum.
»O nein, nur eine liebe alte Dame aus Boston. Aber eines Tages begegnete sie der englischen Königin, und da trug sie diese Tiara. Ich dachte, es wäre spaßig, wenn ich sie heute Abend aufsetze.« Vorsichtig nahm Marianne das Diadem von ihrem elegant frisierten Haar und drückte es zwischen Gabriellas blonde Locken. »Jetzt siehst du wie eine kleine Prinzessin aus.«
»Wirklich?«, wisperte Gabriella atemlos. Konnte ein so unartiges Mädchen einer Prinzessin gleichen?
»Komm, ich zeig's dir.« Marianne zog sie auf die Beine und führte sie durch den Flur des Oberstocks zu einem großen antiken Spiegel.
Verwirrt starrte Gabriella hinein, sah sich neben der schönen blonden Frau stehen – und die funkelnde Tiara auf ihrem eigenen Kopf. »Oh, was für ein schöner Schmuck ... Und Sie sind noch viel schöner.« Niemals würde sie diesen wunderbaren Augenblick vergessen. Warum war Marianne Marks so freundlich zu ihr? Und wieso konnte Mommy nicht auch so sein? Vermutlich, weil sie eine so gute Mutter nicht verdienen würde.
»Du bist ein ganz besonderes kleines Mädchen«, flüsterte Marianne und küsste sie wieder. Dann nahm sie ihr behutsam die Tiara vom Kopf und befestigte sie wieder auf ihrem eigenen Haar. Nach einem letzten Blick in den Spiegel fügte sie hinzu: »Wie glücklich müssen deine Eltern sein ...« Traurig senkte Gabriella die Wimpern. Wenn Marianne wüsste, was für ein schlimmes Kind sie war, würde sie so etwas nicht sagen. Seltsam, dass Mommy ihr nichts davon erzählt hatte ... »Jetzt sollte ich wieder nach unten gehen. Der arme Robert wartet schon so lange auf mich.«
Immer noch überwältigt von ihrem Erlebnis – den Küssen, der Tiara, den freundlichen Worten –, nickte Gabriella verständnisvoll. Ihr Leben lang würde sie sich an das Geschenk dieser Begegnung erinnern, und Marianne wusste nicht einmal, wie viel Gabriella ihr verdankte. »Ich würde so gern bei Ihnen wohnen«, platzte sie heraus, während sie langsam zur Treppe zurückkehrten, Hand in Hand.
Verblüfft runzelte Marianne die Stirn. Was mochte das kleine Mädchen zu diesem merkwürdigen Geständnis veranlassen? »Das wünschte ich mir auch.« Nur widerstrebend ließ sie Gabriellas zarte Finger los. Der Kummer in den großen Kinderaugen tat ihr in der Seele weh. »Aber dann wären deine Mommy und dein Daddy sehr traurig.«
»Nein«, erwiderte Gabriella klar und
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