Der langsame Walzer der Schildkroeten
Abfalleimer. Sie brachte ihren Abfall jeden Abend um halb elf nach unten, das war ihr Ritual, aber heute hatte sie gedacht, dass sie eigentlich auch bis zum nächsten Morgen warten könne.
Sie würde nicht warten. Rituale waren Rituale, man musste sie pflegen, um seine Selbstachtung zu bewahren.
Sie schürzte genüsslich die Lippen. Im Grunde bereute sie es doch nicht, den Lachs gegessen zu haben. Das war ihre wöchentliche Leckerei. Und die hatte sie auch bitter nötig! Heute Abend hatte sie es ihnen wieder mal so richtig gegeben. Der ganzen Bagage: Lefloc-Pignel, van den Brock und Merson. Drei unverschämte Kerle, die es sich in ihren vier Wänden gut gehen ließen. Der erste hatte es durch seine Heirat geschafft, seine Herkunft zu verschleiern, der zweite war ein gefährlicher Hochstapler und der dritte ein liederlicher Wüstling und auch noch stolz darauf. Sie wusste Dinge über sie, die sonst niemand wusste. Dank ihres Onkels, des Bruders ihrer Mutter. Er hatte bei der Polizei gearbeitet. Im Innenministerium. Er hatte Akten über jeden. Als sie noch klein war, nahm sie oft eine Zeitung, kletterte auf seinen Schoß, deutete mit dem Finger auf eine Meldung und sagte: »Erzähl mir, wie der verhaftet wurde.« »Du verrätst es aber niemandem, versprochen?«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Das ist ein Geheimnis.« Sie nickte, und er erzählte ihr von den Beschattungen, den Fallen, den Spitzeln, dem stundenlangen Warten, ehe der Mann der Polizei endlich ins Netz ging. Tot oder lebendig. Seine Erzählungen handelten von Verrat, Leichtsinn, Vorladungen, Schusswechseln und immer, immer von Dramen und Blut. Das war viel interessanter als die Kinder- und Mädchenbücher, die sie auf Geheiß ihrer Mutter lesen musste.
So hatte sie Gefallen an Geheimnissen gefunden.
Er wiederum hatte Gefallen an Akten gefunden, und obwohl er längst nicht mehr im Dienst war, hatte er immer noch seine ganzen Unterlagen. Die immer auf dem neuesten Stand blieben. Weil er gewissen Leuten gelegentlich einen Gefallen tat. Weil er verschwiegen war wie ein Grab, schlau in der Wahl seiner Verbündeten, nachsichtig gegenüber dem Amtsmissbrauch der einen und den Schwächen der anderen.
So hatte sie von Lefloc-Pignels Herkunft erfahren, von der Odyssee des von allen verstoßenen Adoptivkinds, von den erbärmlichen Kinderheimen, von seiner unverhofften Heirat mit der kleinen Mangeain-Dupuy und seinem Aufstieg in die bessere Gesellschaft. Sie wusste, warum van den Brock aus Antwerpen weggezogen und nach Frankreich gekommen war, um hier zu praktizieren, »Kunstfehler? Eher das perfekte Verbrechen«, flüsterte sie ihm genießerisch ins Ohr, wenn sie die jährliche Versammlung verließ, bei der sie mit ihren drei Opfern zusammentraf. Und der lüsterne Merson? Trieb der sich nicht in Swingerklubs herum? Verschlang er seinen Körper nicht in widerwärtigen Knäueln? Es käme gar nicht gut an, wenn sich das herumspräche … Ihr Onkel hatte Fotos. Merson schien das völlig gleichgültig zu sein, aber er würde nicht mehr lachen, wenn sie auf dem Schreibtisch seines Chefs landeten, des sittenstrengen Monsieur Lampalle von Maisons Lampalle, »dem Hort des Glücks und der Familie!« Leb wohl, Beförderung! Seine ganze schöne Zukunft lag in ihrer Hand.
Sie hatte sie alle in der Hand. Einmal im Jahr sprach sie ihre Warnungen aus. Das war ihr großer Abend. Schon Wochen im Voraus bereitete sie sich darauf vor. Van den Brock wäre diesmal fast tot umgefallen. Sie besaß die komplette Akte seines »Kunstfehlers«. Sie lachte leise vor sich hin und stellte sich vor, wie ein neuer Prozess eröffnet würde. Mit all seinen Geliebten, den jetzigen und den früheren. Da gäbe es eine Menge schmutziger Wäsche zu waschen! Sie hielt eine unglaubliche Macht in Händen. Nicht genug, um ihr das Haus und die schöne Wohnung zur Straße hinaus zurückzugeben, aber es waren köstliche Sticheleien, die sie an jene Zeiten erinnerten, als sie noch jemand war, als die Mieter ihr zulächelten und sich nach ihrem Befinden erkundigten. Heute schlugen sie ihr die Tür vor der Nase zu. Sie war eine unnütze alte Jungfer.
Mit dem nach Lachs stinkenden Abfalleimer trat sie in den Aufzug und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Die kleine Neue mit ihren verschreckten Rehaugen hatte sie elektrisiert. Ihre Akte war noch leer. Das Buch, das sie für ihre Schwester geschrieben hatte? Ein offenes Geheimnis. Ihr Mann hingegen … Der war kein unbeschriebenes Blatt. Der Unschuldsengel
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