Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
Vom Netzwerk:
erfahren. Seinem geheimen Leben, seinem Doppelleben. Vielleicht hätte sie ihm nicht diesen anonymen Brief schreiben sollen. Das war unvorsichtig gewesen. Sie hatte sich aus ihrer Welt hinausgewagt. Ihr Onkel sagte ihr immer wieder, dass sie ihr Ziel sorgfältig auswählen und sich vor jeder Gefahr schützen müsse.
    Sich zu schützen. Das hatte sie vergessen.
    Sie ließ sich langsam in den Schmerz hinabgleiten, dann in eine wohltuende Ohnmacht, eine Lache aus warmem, klebrigem Blut. Sie hätte sich gerne umgedreht, um das Gesicht ihres Angreifers zu sehen, aber dazu hatte sie nicht mehr die Kraft. Sie bewegte einen Finger der linken Hand, fühlte das zähflüssige, dicke Blut, ihr Blut. Kann er herausgefunden haben, dass ich den Brief geschrieben habe? Welcher Fehler hat es ihm ermöglicht, mich zu finden? Ich habe doch darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen, bin eigens zu einem Postamt am anderen Ende von Paris gefahren, habe Zeitungen gekauft, die ich nie lese, um daraus die Wörter auszuschneiden. Ich werde nie wieder meine Lippen auf seine Fotos drücken. Ich hätte meinem Onkel dieses brennende Verlangen gestehen sollen. Er hätte mich gewarnt: Reiß dich zusammen, Sibylle, das ist dein Problem, du hast dich nicht unter Kontrolle. Drohungen müssen subtil sein. Je beherrschter du bleibst, desto stärker ist die Wirkung. Wenn du wütend wirst, machst du niemandem mehr Angst, dann offenbarst du deine Schwäche. Das war noch eine seiner Devisen. Sie hätte auf ihren Onkel hören sollen. Er sprach wie die Bibel.
    Ach was, wunderte sie sich, man kann so kurz vor dem Tod immer noch denken? Das Gehirn funktioniert weiter, während der Körper leerläuft, während das Herz nur noch zögernd schlägt, während der Atem schwindet …
    Sie spürte, wie der Angreifer sie mit dem Fuß anstieß, ihren leblosen Körper hinter die große Tonne ganz hinten rollte, die nur einmal in der Woche nach draußen gezogen wurde. Er pferchte sie in die hinterste Ecke, um sie zu verstecken, rollte sie in ein Stück alten Teppichboden ein, damit man sie nicht sofort entdeckte. Sie fragte sich, wer diesen Teppichboden dorthin gelegt hatte und warum er immer noch da lag. Noch ein Versäumnis dieser unfähigen Concierge! Die Leute machen einfach nicht mehr ihre Arbeit, sie verlangen Zuschläge und Urlaub, aber wollen sich ja nicht mehr die Hände schmutzig machen. Wie lange es wohl dauern würde, bis man sie fand? Würde man den genauen Todeszeitpunkt feststellen können? Der Onkel hatte ihr erklärt, wie man das machte. Der dunkle Fleck auf dem Bauch. Sie würde einen dunklen Fleck auf dem Bauch haben. Sie stieß an eine Getränkebüchse, die gegen ihren Arm rollte, sie roch eine leere Erdnusstüte und war überrascht, dass sie noch bei Bewusstsein war, obwohl ihre ganze Kraft mit ihrem Blut aus ihr herausfloss. Sie hatte nicht mehr den Mut, dagegen anzukämpfen.
    Überrascht, überrascht und so schwach.
    Sie hörte, wie sich die Tür des Müllraums schloss. Ein rostiges Quietschen in der nächtlichen Stille. Sie zählte noch drei Herzschläge, ehe sie einen leisen Seufzer ausstieß und starb.

Vierter Teil

I ris nahm das Shiseido-Puderdöschen aus ihrer Birkin Bag. Sie näherten sich St. Pancras, und sie wollte die Schönste sein, wenn sie auf den Bahnsteig trat.
    Sie hatte ihr langes schwarzes Haar zusammengebunden, grau-violetten Lidschatten aufgelegt und ihre Wimpern getuscht. Ach, ihre Augen! Sie wurde niemals müde, sie zu bewundern. Unfassbar, wie sich ihre Farbe verändert, sie werden tintenschwarz, wenn ich traurig bin, schimmern blaugolden, wenn ich mich freue – wer könnte meine Augen beschreiben? Sie schlug den Kragen ihrer Jean-Paul-Gaultier-Bluse hoch und gratulierte sich im Stillen dazu, diesen Hosenanzug aus fliederfarbenem Jersey gewählt zu haben, der ihre Figur so gut zur Geltung brachte. Das Ziel ihrer Reise war schnell umrissen: Philippe zurückerobern und ihren Platz in der Familie wieder einnehmen.
    Ein Anflug von Zärtlichkeit durchströmte sie, als sie an Alexandre dachte, den sie seit sechs Wochen nicht mehr gesehen hatte. Sie war in Paris zu sehr beschäftigt gewesen. Bérengère hatte als Erste angerufen.
    »Du sahst gestern im Costes einfach fabelhaft aus. Ich wollte dich nicht stören, du hast mit deiner Schwester zu Mittag gegessen …«
    Sie hatten miteinander geplaudert, als wäre nie etwas gewesen. Die Zeit lässt alles vergessen, dachte Iris, während sie ihr Gesicht nachpuderte. Die Zeit und die

Weitere Kostenlose Bücher