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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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Mann duldete keine Vertraulichkeiten.
    »Damals war mein Dorf noch voller Leben. Es gab eine Hauptstraße mit Läden. Einen Gemischtwarenladen, ein Lebensmittelgeschäft, einen Friseur, ein Postamt, eine Bäckerei, zwei Metzger, einen Blumenhändler, eine Kneipe. Ich bin nie wieder dorthin zurückgekehrt, aber von der Welt, die ich gekannt habe, dürfte nicht mehr viel geblieben sein. Das ist jetzt …«
    Er grub in seinen Erinnerungen.
    »Über vierzig Jahre her … Ich war noch ein Kind.«
    »Wie alt waren Sie, als Sie …«
    Sie schreckte davor zurück, die Worte »ausgesetzt wurden« auszusprechen.
    »Ich muss ungefähr … Ich erinnere mich nicht mehr genau, wissen Sie … Manche Dinge habe ich noch sehr genau in Erinnerung, aber wie alt ich damals war, weiß ich nicht mehr.«
    »Sind Sie lange bei ihm geblieben?«
    »Ich bin bei ihm aufgewachsen. Seine kleine Druckerei hieß Imprimerie Moderne . Die Buchstaben waren in Grün auf ein weißes Holzschild über der Tür gemalt. Er hieß Graphin. Benoît Graphin … Er sagte immer, mit diesem Namen sei er für den Beruf prädestiniert gewesen. Graphin, Grafie, Grafik. Er arbeitete Tag und Nacht. Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Von ihm habe ich alles gelernt. Sorgfalt, Pünktlichkeit, Einsatz und Fleiß …«
    Er schien in eine andere Welt zurückgekehrt zu sein. Selbst seine Worte klangen altmodisch. Sie blätterten von dem weiß gestrichenen Schild ab. Er rieb sich die Finger, als wollte er Druckerschwärze wegwischen.
    »Ich bin inmitten von Maschinen aufgewachsen. Damals war das Drucken noch ein Handwerk. Er setzte seine Texte noch per Hand. Mit Bleilettern, die er in einem Winkelhaken aneinanderreihte. Oft war es Didot oder Bodoni. Anschließend machte er einen Korrekturabzug und besserte die Fehler aus. Dann spannte er den Schriftsatz in einen Schließrahmen ein und druckte. Er hatte eine OFMI -Druckmaschine, die zweitausend Exemplare pro Stunde schaffte. Er überwachte das Einfärben, und während dieser ganzen Zeit erklärte er mir, was er gerade machte. Er betete mir die Fachbegriffe vor wie das Einmaleins. Ich musste zweihundert Schriftarten kennen, und dazu noch alle typografischen Maßangaben, Punkt und Cicero. Ich erinnere mich an alles. An die Fachbegriffe, an seine Gesten, an die Gerüche, an die Papierriese, die er zuschnitt, anfeuchtete, trocknen ließ … Hinten in seiner Werkstatt stand eine große Maschine, eine Marinoni, die einen infernalischen Lärm verursachte. Er stand davor, um den Druckvorgang zu kontrollieren, und nahm mich bei der Hand … Das sind wunderbare Erinnerungen. Die Erinnerungen eines Bauerntölpels!«
    Diese letzten Worte hatte er mit Verbitterung ausgestoßen.
    »Sie ist eine bösartige Frau«, sagte Joséphine. »Sie dürfen sich ihr Gerede nicht zu Herzen nehmen!«
    »Ich weiß, aber das ist meine Vergangenheit. Daran darf niemand rühren. Das dulde ich nicht. Ich hatte damals auch eine Freundin. Sie hieß Sophie. Ich tanzte mit ihr, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei … Sie neigte mir ihren kleinen Kopf zu, und ich fühlte mich groß, stark, bedeutend. Das waren sehr glückliche Momente. Ich liebte diesen Mann. Als ich zehn Jahre alt war und auf eine weiterführende Schule gehen sollte, schickte er mich auf ein Internat nach Rouen. Er sagte, ich solle unter bestmöglichen Bedingungen lernen. Ich besuchte ihn an den Wochenenden und während der Ferien. Ich wurde älter. Ich langweilte mich in der Druckerei. Ich war jung. Was er mir beibrachte, interessierte mich nicht mehr. Ich prahlte mit meinem neuen Wissen, er sah mich wehmütig und schmerzlich zugleich an und strich sich dabei übers Kinn. Ich glaube, ich verachtete ihn dafür, dass er immer ein Handwerker geblieben war. Was war ich doch für ein Idiot! Ich dachte, ich wäre ihm überlegen, indem ich mein Wissen ausspielte. Ich wollte ihn beeindrucken …«
    »Sie sollten hören, wie meine Töchter mit mir reden, wenn sie mir zeigen, wie man im Internet surft: als wäre ich eine Schwachsinnige!«
    »Wenn Kinder mehr wissen als ihre Eltern, ist die Autorität gefährdet …«
    »Ach, das ist mir egal, meinetwegen sollen sie doch glauben, ich sei geistig zurückgeblieben!«
    »Das dürfen Sie nicht. Ihre Kinder schulden Ihnen Respekt als Mutter und Erziehungsperson. Die Autoritätsproblematik wird in naher Zukunft zentrale Bedeutung erlangen. Das Fehlen des Vaters in den heutigen Gesellschaften ist ein gewaltiger Missstand bei der Erziehung der Kinder. Ich

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