Der langsame Walzer der Schildkroeten
ich?
Sie hörte, wie Alexandre aufzählte, was sie an diesem Wochenende unternehmen würden.
»Schaffen wir das denn alles überhaupt?«, fragte sie belustigt.
»Wenn du früh aufstehst, ja. Aber wir dürfen nicht trödeln …«
Wie ernst er wirkte! Sie rief sich in Erinnerung, wie alt er war. Fast vierzehn. Er sprach ein akzentfreies Englisch, wenn er etwas bestellte oder den Titel eines Films nannte. Philippe wandte sich an ihn, um nicht direkt mit ihr reden zu müssen. Er sagte: »Was glaubst du, würde Maman gern die Matisse-Retrospektive sehen oder lieber die Miró-Ausstellung besuchen?« Und Alexandre antwortete, dass Maman seiner Ansicht nach gerne beides sehen wollte. Ich bin ein Federball, den sie mit Fragen, die ich nicht selbst zu beantworten brauche, fröhlich zwischen sich hin und her schlagen. Diese Leichtigkeit verhieß nichts Gutes.
Philippes Wohnung glich der in Paris. Das war nicht überraschend, er hatte beide eingerichtet. Sie hatte ihm dabei bloß zugesehen. Eine Wohnung auszustatten, interessierte sie nicht. Sie schätzte geschmackvolle Einrichtung, aber Antiquitätenhändler und Auktionen abzuklappern lag ihr nicht. Alles, was längere Anstrengung erfordert, widerstrebt mir, ich gehe gern spazieren, träume vor mich hin, liege stundenlang irgendwo und lese. Ich bin ein kontemplativer Mensch. Wie Madame Récamier. Eine Faulenzerin bist du!, murmelte eine leise Stimme, die sie rasch zum Schweigen brachte.
Philippe hatte ihre Reisetasche in der Diele abgestellt. Alexandre ging schlafen, nachdem er sie höflich um einen Kuss gebeten hatte, und sie blieben allein im großen Wohnzimmer zurück. Er hatte einen weißen Teppichboden hineinlegen lassen, er hatte wohl nicht sehr oft Gäste. Sie setzte sich mit Absicht auf ein großes Sofa. Sah zu, wie er die Stereoanlage einschaltete, eine CD auswählte. Er wirkte so verschlossen, dass sie sich fragte, ob es nicht ein Fehler gewesen war, herzukommen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich blaue Augen, eine schmale Taille, runde Schultern hatte. Sie spielte mit ihrem Haar, streifte die Schuhe ab und zog ihre langen Beine in einer abwehrenden, abwartenden Haltung an. Sie fühlte sich fremd in dieser Wohnung. Nicht einen Moment lang hatte Philippe entspannt gewirkt. Er war freundlich, höflich, aber er hielt sie auf Distanz. Wie konnte es nur so weit kommen? Sie beschloss, nicht länger darüber nachzudenken. Ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht vorstellen. Unvermittelt stieg ihr das Eau de Cologne des Mannes aus dem Zug wieder in die Nase, und sie verzog angewidert das Gesicht.
»Alexandre scheint sich hier wohlzufühlen …«
Philippe lächelte und wiegte den Kopf hin und her, als redete er mit sich selbst.
»Ich bin so glücklich mit ihm. Ich wusste nicht, dass er mich so glücklich machen kann.«
»Er hat sich sehr verändert. Ich erkenne ihn fast nicht wieder.«
Du hast ihn doch nie wirklich gekannt!, dachte er, aber er schwieg. Er wollte die Auseinandersetzung nicht mit einer Diskussion über Alexandre eröffnen. Alexandre war nicht das Problem, das Problem war diese Ehe, die schon so lange dahinsiechte. Er betrachtete sie, wie sie dort vor ihm saß. Die Schönste von allen. Ihre Finger spielten mit der zarten Perlenkette, die er ihr zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte, die blauvioletten Augen blickten in die Ferne, sie fragte sich, wie die Zukunft ihrer Beziehung aussehen mochte, wie ihre eigene Zukunft aussehen mochte, sie zählte die Jahre, die sie noch attraktiv sein würde, die Mittel, die sie würde einsetzen müssen, um seine Frau zu bleiben oder die Frau eines anderen zu werden. Schon jetzt rang sie nach Atem angesichts der Aussicht, mit einem Fremden noch einmal ganz von vorn anzufangen, während er da unmittelbar vor ihr saß, eine vermeintlich leichte Beute, die so lange sicher am Haken gezappelt hatte.
Er musterte den schlanken Arm, den grazilen Hals, die vollen Lippen, er zerteilte sie, und jedes Fragment gewann einen Preis für das schönste Einzelstück. Er stellte sich vor, wie sie ihren Freundinnen von ihrem Wochenende in London erzählte, oder auch nicht, sie kann nicht mehr viele Freundinnen haben. Er malte sich aus, wie sie im Zug saß, ihre Chancen ausrechnete, kritisch ihr Gesicht im Spiegel musterte … Er hatte sich so lange in der Fata Morgana seiner Liebe verloren. Dort, wo ich eine Oase, Palmen und eine Quelle sah, waren in Wirklichkeit nur Dürre und Berechnung. Hat ihr das Leben mit mir
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