Der langsame Walzer der Schildkroeten
kratzten mit den Fingernägeln am Glas, doch die Schildkröten rührten sich nicht.
Ärgerlich richteten sie sich wieder auf.
»Der Kerl braucht ja ganz schön lange, um sich was anderes anzuziehen …«
»Solche Typen sind immer wie aus dem Ei gepellt, die gehen nicht schlampig aus dem Haus!«
»Sollen wir mal nachsehen, was er da treibt?«
In diesem Moment stürmte ihr Kollege ins Wohnzimmer und rief: »Ich konnte nichts machen, ich konnte nichts machen, er hat gesagt, ich soll mich umdrehen, während er sich ’ne frische Unterhose anzieht, und dann ist er gesprungen!«
Sie rannten ins Schlafzimmer. Der gesamte Boden war mit kleinen Schildkröten, gelben und grünen Salatblättern, Apfelschnitzen, Erbsen, Gurken, Birnen und frischen Feigen bedeckt. Das Fenster stand weit offen.
Sie beugten sich hinaus in den Hof, sahen den leblosen Körper von Hervé Lefloc-Pignel und in seinen verkrampften Fingern den vom Sturz zerschmetterten Panzer einer Schildkröte.
Hervé van den Brock sah einen Citroën C5 über die weiße Kieszufahrt auf das Haus seiner verstorbenen Schwiegereltern zufahren, das seine Frau nach deren Tod geerbt hatte. Er hob den Blick von dem Buch, in dem er gerade las, knickte die Seite um und legte das Buch auf das Beistelltischchen neben seiner Gartenliege. Schob die Tüte mit den Pistazien zurück, die er nebenbei geknabbert hatte. Ihm missfiel das Geräusch, mit dem der Kies auf den dichten, grünen Rasen spritzte, den ein Gärtner mit peinlicher Sorgfalt pflegte. Diese Leute hatten keinerlei Erziehung. Und ihm missfiel der Ton, in dem sie ihn anwiesen, ihnen zu folgen.
»Worum geht es überhaupt?«, fragte er ungnädig.
»Das werden Sie bald erfahren …«, antwortete einer der beiden Männer, trat seine Zigarette auf dem saftig grünen Gras aus und zückte seinen Polizeiausweis.
»Ich möchte Sie bitten, Ihre Zigarette aufzuheben, ansonsten rufe ich meinen Freund, den Präfekten, an … Er wird sehr bekümmert sein, wenn er von Ihrem ungehobelten Verhalten erfährt.«
»Er wird noch sehr viel bekümmerter sein, wenn er erfährt, was Sie neulich abends im Wald von Compiègne gemacht haben«, antwortete der Kleinere von beiden und ließ beiläufig ein Paar Handschellen von der erhobenen Hand baumeln.
Hervé van den Brock wurde blass.
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte er in umgänglicherem Ton.
»Das können Sie uns dann ja alles erklären«, erwiderte der Kleine und öffnete die Handschellen.
»Das wird nicht nötig sein … Ich komme mit.«
Er winkte seiner Frau zu, die gerade Bambusschösslinge in einen Blumenkübel pflanzte.
»Ich muss kurz etwas erledigen, ich bin bald wieder zurück …«
»Oder auch nicht …«, ergänzte hämisch der Mann, der die Zigarette auf dem grünen Rasen ausgetreten hatte.
Joséphines Stimme erhob sich hell und melodisch in der dunklen Krypta des Krematoriums auf dem Friedhof Père-Lachaise.
»O ihr irrenden Sterne, ihr unsteten Gedanken, ich beschwöre euch, lasst mich unbehelligt. Lasst mich den Geliebten anreden, lasst mir ein Gutes bei ihm geschehen! Du bist mein Lieb, du bist meine Freude, du bist meine gute Stunde, du bist mein fröhlicher Tag. Du bist mein, so bin ich dein, und das soll auf ewig so sein! Nun sag mir, mein Geliebter, was bedeutet es, dass mich meine Seele so lange und so inbrünstig nach dir suchen ließ und ich dich nie fand? Ich suchte dich die Nacht hindurch in der Lust dieser Welt und fuhr so über Gebirg und Gefilde, unsinnig wie ein ungezäumtes Ross. Doch jetzt endlich habe ich dich gefunden und ruhe glücklich, friedlich, leicht an deiner Brust.«
Bei den letzten Worten brach ihre Stimme, und nur mit Mühe brachte sie noch »Heinrich Seuse, 1295 bis 1366« heraus, um den Mystiker zu nennen, von dem die Worte stammten, die sie ihrer zwischen Blumen ruhenden Schwester schenkte. »Leb wohl, meine Liebste, Gefährtin meines Lebens, meine wundervolle Schöne.« Sie faltete das Blatt Papier zusammen und ging zurück zu ihrem Platz zwischen ihren Töchtern.
Es hatten sich nicht viele Trauergäste im Krematorium des Père-Lachaise versammelt. Nur Henriette, Carmen, Joséphine, Hortense, Zoé, Philippe, Alexandre, Shirley. Und Gary.
Er war an diesem Morgen mit seiner Mutter aus London gekommen. Hortense war überrascht gewesen, als sie ihn in der Suite im Hotel Raphaël gesehen hatte. Sie hatte kurz gezögert, war dann auf ihn zugegangen, hatte ihn auf die Wange geküsst und gesagt: »Schön, dass du gekommen bist.« Das
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