Der langsame Walzer der Schildkroeten
Gleiche, was sie auch zu Carmen und Henriette gesagt hatte. Philippe hatte versucht, ein paar von Iris’ Freundinnen zu erreichen: Bérengère, Agnès, Nadia. Er hatte eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen, aber keine von ihnen hatte zurückgerufen. Sie waren sicher verreist.
Der Sarg war mit weißen Rosen und Gebinden aus langstieligen, leuchtend violetten Lilien mit gelben Stempeln bedeckt. Ein großes Foto von Iris stand auf einem Gestell, und im Hintergrund erklangen die friedvollen Arpeggien eines Streichquartetts von Mozart.
Joséphine hatte einige Texte ausgewählt, die die Anwesenden der Reihe nach lesen sollten.
Henriette hatte sich geweigert, sie behauptete, sie brauche kein solches Getue, um ihren Schmerz auszudrücken. Sie war enttäuscht von der schlichten Zeremonie und der geringen Zahl der Trauergäste. Sie saß sehr aufrecht unter ihrem großen Hut, und nicht eine Träne benetzte das hübsche Batisttaschentuch, mit dem sie sich unablässig die Augen tupfte, weil sie hoffte, ihnen so eine Träne zu entlocken, die ihren überwältigenden Kummer bezeugen würde. Nur widerstrebend hatte sie Joséphine ihre Wange hingehalten. Sie gehörte zu jenen Frauen, die nicht verzeihen können, und ihre ganze Haltung ließ erkennen, dass der Tod ihrer Meinung nach das falsche Opfer gewählt hatte.
Carmen schluchzte zusammengesunken auf ihrem Stuhl. Alexandre starrte das Foto seiner Mutter an, ernst, mit unbewegtem Gesicht. Er versuchte, seine Erinnerungen zu sammeln. Sein finsterer Gesichtsausdruck verriet, dass dies keine leichte Aufgabe war. Er bekam nur flüchtige Eindrücke von seiner Mutter zu fassen: hastige Küsse, ein Hauch von Parfüm, das gedämpfte Plumpsen von Tragetaschen, die sie nach dem Einkaufen im Flur fallen ließ und dabei rief: »Carmen! Ich bin wieder da, mach mir einen Rauchtee mit zwei winzigen Scheiben Toast. Ich sterbe vor Hunger!«, ihre Stimme beim Telefonieren, überraschte, genüssliche Ausrufe, ihre schmalen Füße mit den lackierten Nägeln, ihr langes, offenes Haar, das er bürsten durfte, wenn sie glücklich war. Weshalb glücklich? Weshalb unglücklich?, fragte er sich, während er das Porträt seiner Mutter studierte, deren große blaue Augen ihn mit ihrem seltsam starren Blick versengten. Entsteht aus diesen Bruchstücken echte Trauer? Mit ihr hatte er gelernt, was eine wunderschöne Frau ist, die sich zwar frei gibt und doch die Hand des Mannes nicht loslassen kann, der sie versorgt. Als kleiner Junge hatte er geglaubt, sie spiele die Rolle einer schönen Gefangenen, und hatte sie sich hinter Gitterstäben vorgestellt. Als sein Vater eine dicke weiße Kerze vor das Porträt gestellt hatte, hatte er ihn gebeten, sie selbst anzünden zu dürfen. Als letzte Ehrbezeugung. »Auf Wiedersehen, Maman«, hatte er gesagt, als er die Kerze angezündet hatte. Und selbst diese Worte waren ihm zu feierlich erschienen für die schöne Frau, die ihn anlächelte. Er versuchte, ihr einen Kuss zu schicken, und ließ es dann doch. Sie ist glücklich gestorben, denn sie ist beim Tanzen gestorben. Beim Tanzen … und dieser Gedanke verstärkte noch – falls dies überhaupt nötig gewesen wäre – das Gefühl, dass er keine Mutter an seiner Seite gehabt hatte, sondern eine schöne Unbekannte.
Zoé und Hortense saßen zu beiden Seiten ihrer Mutter. Zoé hatte eine Hand in die ihrer Mutter geschoben, drückte sie mit aller Kraft und flehte, nicht weinen, Maman, nicht weinen. Es war das erste Mal, dass sie einen Sarg aus der Nähe sah. Sie stellte sich den kalten Körper ihrer Tante vor, der unter den weißen Rosen und den Lilien lag. Sie bewegt sich nicht mehr, sie hört uns nicht mehr, sie hat die Augen geschlossen, ihr ist kalt, vielleicht will sie ja da raus? Es tut ihr leid, dass sie tot ist. Und jetzt ist es zu spät. Sie kann nie mehr zurückkommen. Und gleich darauf dachte sie, Papa ist nicht in einer so schönen Kiste gestorben, er ist nackt gestorben, hat sich gegen die scharfen Zähne gewehrt, die ihn zerfleischten. Das war zu viel für sie. Schluchzend sank sie gegen ihre Mutter, die sie in die Arme nahm und ahnte, welche Trauer und welchen damit verbundenen schrecklichen Schmerz Zoé endlich zuließ.
Seufzend betrachtete Hortense das Blatt, auf dem ihre Mutter den Text ausgedruckt hatte, den sie lesen sollte. Noch so eine Idee von Maman! Als ob wir jetzt Lust hätten, Gedichte vorzutragen. Aber von mir aus … Sie lauschte dem Mozart-Quartett bis zum Schluss, und als der
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