Der langsame Walzer der Schildkroeten
neununddreißig Jahren lebte er noch immer wie ein Student in einem Einzimmerappartement in Asnières. In seinem Kühlschrank bliesen eine Flasche Cola und ein Stück Pastete Trübsal, er besaß weder Auto noch Fernseher und trug bei jedem Wetter einen dunkelblauen Dufflecoat, der ihm als zweites Zuhause diente. In seinen großen Taschen trug er alles mit sich herum, was er im Laufe des Tages benötigte. Er hatte einen Zwillingsbruder, Vittorio, der ihm große Sorgen bereitete. Joséphine brauchte nur die Falte zwischen seinen Brauen zu betrachten, um zu wissen, ob er gute oder schlechte Nachrichten von seinem Bruder hatte. Wenn die Furche sich vertiefte, zog ein Gewitter auf. Sie fragte nie danach. An solchen Tagen blieb Luca stumm und missgelaunt. Er nahm ihre Hand, schob sie in die Tasche seines Dufflecoats zu den Schlüsseln, Stiften, Heften, Halsbonbons, MétroFahrscheinen, dem Handy, den Papiertaschentüchern und dem Portemonnaie aus altem rotem Leder. Mittlerweile erkannte sie all diese Gegenstände mit den Fingerspitzen, sogar die Marke der Halsbonbons. Sie sahen sich abends, wenn Zoé bei einer Freundin übernachtete, oder am Wochenende, wenn sie zu ihrem Cousin Alexandre nach London fuhr.
Jeden zweiten Freitag brachte Joséphine Zoé zur Gare du Nord. Philippe und sein Sohn Alexandre holten sie am Bahnhof St. Pancras ab. Philippe hatte Zoé ein Jahresticket für den Eurostar geschenkt, und Zoé freute sich jedes Mal auf ihr Zimmer in der Wohnung ihres Onkels in Notting Hill.
»Was, du hast da dein eigenes Zimmer?«, hatte Joséphine überrascht gerufen.
»Ich habe sogar einen Schrank voll Kleider, damit ich keinen Koffer mitzunehmen brauche! Philippe denkt einfach an alles, er ist der beste Onkel auf der ganzen Welt!«
Aus dieser Geste sprachen das Zartgefühl und die Großzügigkeit, die Joséphine von ihrem Schwager kannte. Jedes Mal wenn sie ein Problem hatte, wenn sie vor einer Entscheidung zögerte, rief sie Philippe an.
Und jedes Mal antwortete er: »Ich bin für dich da, Jo, du kannst mich um alles bitten, das weißt du doch.« Sobald sie den herzlichen Klang seiner Stimme hörte, war sie beruhigt. Nur zu gern hätte sie sich noch ein wenig länger in die Wärme dieser Stimme gehüllt, in die Zärtlichkeit, die sie hinter der kaum merklichen Veränderung seines Tonfalls erahnte, die auf ihr »Hallo, Philippe, ich bin’s, Jo« folgte, doch gleich schrillte eine Warnglocke los: Vorsicht, Gefahr! Er ist der Mann deiner Schwester! Lass die Finger von ihm, Joséphine!
Antoine, der Vater ihrer beiden Töchter, war vor sechs Monaten gestorben. In Kenia, wo er im Auftrag eines chinesischen Geschäftsmanns namens Wei eine Krokodilfarm geleitet hatte. Doch die Geschäfte waren immer schlechter gelaufen, er hatte angefangen zu trinken und war in einen seltsamen Dialog mit den Reptilien getreten, die sich weigerten, sich zu vermehren, die ihre Schutzzäune einrissen und die Angestellten zerfleischten. Nächtelang saß er da und versuchte, in den gelben Augen der Krokodile zu lesen, die dicht über der Wasseroberfläche schwebten. Er wollte mit ihnen reden, sich mit ihnen anfreunden. Eines Nachts war er zu ihnen ins Wasser gestiegen und von einem der Tiere gefressen worden. Mylène hatte ihr vom tragischen Ende ihres Mannes erzählt. Mylène, Antoines Geliebte, die Frau, die er ausgewählt hatte, ihn auf sein kenianisches Abenteuer zu begleiten. Die Frau, für die er sie verlassen hatte. Nein! Er hat mich nicht ihretwegen verlassen, er hat mich verlassen, weil er es nicht länger aushielt, arbeitslos zu sein, den ganzen Tag untätig in der Wohnung herumzusitzen. Von meinem Gehalt abhängig zu sein. Mylène war nur ein Vorwand. Ein Gerüst, an dem er sich wieder hochzog.
Joséphine hatte noch nicht den Mut aufgebracht, Zoé zu sagen, dass ihr Vater tot war. Sie hatte ihr erklärt, dass er zu einer Expedition in den Dschungel aufgebrochen sei, um passende Gebiete für neue Krokodilfarmen zu erkunden. Er habe kein Handy mitgenommen, aber es werde sicher nicht mehr lange dauern, bis er sich bei ihnen meldete. Zoé nickte jedes Mal und antwortete: »Also habe ich jetzt nur noch dich, Maman, hoffentlich passiert dir nichts«, und sie klopfte auf Holz, um das Unheil abzuwehren. »Ach was, mir passiert doch nichts, ich bin unbesiegbar wie Königin Eleonore von Aquitanien, die ohne Weh und Klage siebzig Jahre alt wurde!« Zoé dachte einen Moment nach und fragte pragmatisch: »Aber falls dir doch etwas passiert,
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