Der langsame Walzer der Schildkroeten
Ausschau, mit dem sie sich zeigen konnte, um die Lästermäuler zum Schweigen zu bringen, die nur zu gern gegen die Chefredakteurin von The Nerve stichelten, jenem Magazin, das seine Opfer mit raffinierter Grausamkeit aufspießte. Und sie war Gary begegnet. Natürlich war er jünger als sie, aber vor allem war er attraktiv, geheimnisvoll und in Charlotte Bradsburrys kleiner Welt ein Unbekannter. Er war Gegenstand von Neugier, Fragen, Mutmaßungen. Er war schön, aber sich dessen nicht bewusst. Er schien reich zu sein, sprach aber nicht darüber. Er arbeitete nicht, spielte Klavier, ging im Park spazieren und las, bis ihm der Kopf schwirrte. Man schätzte sein Alter zwischen neunzehn und achtundzwanzig, je nach Gesprächsthema. Unterhielt man sich mit ihm über das alltägliche Leben, über den schlechten Zustand der U-Bahn oder die Wohnungspreise, reagierte er wie ein ahnungsloser Teenager. Aber kaum kam die Rede auf Goethe, Tennessee Williams, Nietzsche, Bach, Cole Porter oder Satie, wandelte er sich im Handumdrehen zum Experten. Er sieht aus wie ein Engel, ein Engel, mit dem man auf der Stelle vögeln will, hatte Charlotte Bradsburry gedacht, als sie ihn am Klavier lehnen sah. Wenn ich ihn nicht sofort einfange, schnappt ihn mir eine andere vor der Nase weg. Sie hatte ihn erobert, indem sie ihn glauben ließ, er rette sie vor all den plumpen Verehrern, die unten vor ihrer Wohnung ihre starken Motoren aufheulen ließen. »Wie öde! Wie gewöhnlich! Dabei sitze ich so gemütlich mit meinem alten Kater und meiner Tasse Tee zu Hause und lese die Träumereien eines einsamen Spaziergängers ! Ich bereite eine von Rousseau inspirierte Ausgabe vor, hätten Sie nicht Lust, daran mitzuwirken?« Gary war begeistert gewesen. Und sie hatte nicht gelogen: Sie hatte Rousseau und die französischen Enzyklopädisten in Cambridge gelesen. Seit diesem Tag waren sie unzertrennlich. Sie übernachtete bei ihm, er übernachtete bei ihr, und sie verpasste ihm im Eiltempo den Schliff eines Mannes von Welt, der aus dem jungen Mann einen ausgesucht kultivierten Menschen machen würde. Sie nahm ihn mit ins Theater, ins Konzert, in verrauchte Jazzklubs, zu steifen Wohltätigkeitsveranstaltungen. Sie hatte ihm ein Jackett, zwei Jacketts, eine Krawatte, zwei Krawatten, einen Pullover, einen Schal, einen Smoking geschenkt. Er war nicht länger der schlaksige Junge, der zu Hause im stillen Kämmerlein Musik studierte oder draußen im Park die Eichhörnchen beobachtete. »Wusstest du, dass Eichhörnchen an Alzheimer sterben?«, hatte er Charlotte eines Tages ins Ohr geflüstert, sich mit Leidenschaft in eines seiner Lieblingsthemen stürzend. »Sie verkalken und wissen nicht mehr, wo sie ihre Nussvorräte für den Winter versteckt haben. Und dann verhungern sie zitternd unter genau dem Baum, an dessen Wurzeln ihre Beute vergraben ist.«
»Aha«, hatte Charlotte lediglich geantwortet und ihre Sonnenbrille hochgeschoben, hinter der zwei große Augen zum Vorschein kamen, in denen nicht das geringste Mitleid für die senilen Eichhörnchen zu erkennen war. Gary hatte sich plötzlich entsetzlich jung und allein gefühlt.
»Und was sagt Hortense dazu?«, fragte Shirley.
»Wozu?«
»Zu … Du weißt ganz genau, wovon ich rede … oder besser gesagt, von wem …«
Er hatte sich wieder der Petersilie und dem Schinken zugewandt, hackte alles klein, fügte Pfeffer und grobes Salz hinzu. Nahm etwas von der Farce auf einen Finger, probierte und gab noch eine Knoblauchzehe und Paniermehl dazu.
»Sie ist beleidigt. Sie wartet darauf, dass ich sie anrufe. Aber ich rufe nicht an. Was soll ich ihr denn sagen?«
Er verteilte die Masse auf den Tomaten, öffnete den vorgeheizten Backofen und stellte mit gerunzelter Stirn die Backzeit ein.
»Dass ich bezaubert bin von dieser Frau, die mich wie einen Mann behandelt und nicht wie einen guten Freund? Das würde ihr nur wehtun …«
»Aber es ist die Wahrheit.«
»Ich habe keine Lust, ihr diese Wahrheit zu sagen. Ich würde nicht die richtigen Worte finden, und außerdem …«
»Aha«, fiel ihm Shirley lächelnd ins Wort, »der Klassiker: Ein Mann drückt sich vor der Aussprache!«
»Ach, komm schon. Wenn ich mit Hortense rede, werde ich mich schuldig fühlen … Schlimmer noch, ich werde mich verpflichtet fühlen, Charlotte in ein schlechtes Licht zu rücken oder den Stellenwert kleinzureden, den sie in meinem Leben hat.«
»Wieso solltest du dich schuldig fühlen?«
»Hortense und ich haben einander einen
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