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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie hatte schon wieder diesen furchtbaren Albtraum gehabt! Sie befand sich in einem gekachelten, feuchten, von weißem Dampf erfüllten Raum, und vor ihr stand ein Mann, groß wie ein Bierfass, mit narbenübersätem, schwarz behaartem Oberkörper, der eine lange Peitsche mit metallverstärkten Spitzen schwang. Mit verzerrter Miene ließ er sie kreisen und entblößte dabei schwarze Zähne, die sich um sie schlossen und sie am ganzen Körper bissen. Sie krümmte sich in einer Ecke zusammen, schrie, wehrte sich, der Mann schlug mit der Peitsche zu, sie sprang auf, lief zur geschlossenen Tür, lief, ohne zu wissen, wie, durch sie hindurch, und fand sich auf einer schmalen, schmutzigen Straße wieder, die sie entlangrannte. Ihr war kalt, sie wurde von Schluchzen geschüttelt, aber sie rannte immer weiter und schürfte sich die Fußsohlen an den Pflastersteinen auf. Es gab niemanden mehr, bei dem sie Zuflucht suchen konnte, niemanden, der sie beschützen würde, sie hörte die Beschimpfungen der Männer, die sich an ihre Verfolgung gemacht hatten, ließ sich auf den Boden fallen, eine dicke Hand packte sie beim Kragen … Und in diesem Moment schreckte sie schweißüberströmt in ihrem Bett hoch.
    Drei Uhr morgens!
    Sie blieb eine Weile reglos sitzen und zitterte vor Angst. Was, wenn sie nicht tot waren und mit beschwerten Füßen auf dem Grund der Themse lagen? Was, wenn sie wussten, wo sie wohnte? Sie war allein. Li May war für zwei Wochen zu ihrer kranken Mutter nach Hongkong geflogen.
    Sie würde niemals wieder einschlafen können. Und sie konnte auch nicht mehr an Garys Tür klopfen. Oder ihn mitten in der Nacht anrufen und sagen: »Ich habe Angst.« Gary schlief mit Charlotte Bradsburry. Gary rief sie nicht mehr an, erzählte ihr nicht mehr von Büchern oder Musik, sie wusste nicht, was aus den Eichhörnchen im Hyde Park wurde, und hatte keine Zeit gehabt, die Namen der Sternbilder zu lernen.
    Sie griff nach einem Kissen und drückte es an sich, um das Schluchzen zu ersticken, das ihr die Kehle zuschnürte. Sie sehnte sich nach Garys langen Armen. Nur Garys lange Arme könnten ihre Ängste auslöschen.
    Aber das war unmöglich!
    Wegen einer Frau.
    Nachts Angst zu haben ist furchtbar. Nachts wird alles bedrohlich. Nachts wird alles endgültig. Nachts holten sie sie ein, und sie starb.
    Sie ging in die Küche, goss sich ein Glas Wasser ein, nahm ein Stück Käse aus dem Kühlschrank, zwei Scheiben Toastbrot, etwas Senf, Mayonnaise und machte sich ein Sandwich, das sie langsam aß, während sie in der blitzblanken Küche auf und ab ging. Ich könnte vom Boden essen! Ich bin von einer chaotischen Schlampe an eine Putzfanatikerin geraten, dachte sie, als sie in ihr Sandwich biss. Wie auch immer, ich werde ihn jedenfalls nicht anrufen! Und wenn ich hier an meinen nächtlichen Angstattacken krepiere. Zum Glück habe ich noch meine Prinzipien! Ein Mädchen ohne Prinzipien ist verloren. Und gerade in solchen Fällen muss man sich an seine Prinzipien halten. Niemals als Erste anrufen, niemals sofort zurückrufen – drei Tage abwarten –, niemals Mitleid erregen, niemals wegen eines Jungen weinen, niemals auf einen Jungen warten, niemals von einem Jungen abhängig sein, keine Zeit mit einem Ignoranten verschwenden, der keine Ahnung hat, wer Jean-Paul Gaultier, Bill Evans oder Ernst Lubitsch ist, jeden von der Liste streichen, der die Rechnung prüft oder das Preisschild an einem Geschenk lässt, der weiße Socken trägt, rote Rosen oder rosa Nelken schickt, sonntagmorgens seine Mutter anruft oder das Vermögen seines Vaters erwähnt, niemals am ersten Abend mit einem Jungen ins Bett gehen, nicht einmal am ersten Abend rumknutschen! Niemals Rosenkohl essen, niemals orangefarbene Kleider tragen, sonst könnten die Leute meinen, man arbeite auf der Autobahn … Sie zählte ihre zehn Gebote auf und biss dabei in das Toastbrot. Seufzte. Ich habe jede Menge Prinzipien, aber keine Lust mehr, mich an sie zu halten. Ich will Gary. Er gehört mir. Ich hatte eine Option auf ihn. Und er war damit einverstanden. Bis diese Frau aufgetaucht ist. Für wen hält die sich eigentlich?
    Sie rief Google auf, tippte Charlotte Bradsburry ein und wurde blass, als sie die Zahl der Treffer sah: 132 457! Sie war in allen Rubriken vertreten: die Familie Bradsburry, der Landsitz der Bradsburrys, die Bradsburrys im House of Lords, die Bradsburrys und die königliche Familie, Charlotte Bradsburrys Magazin, ihre

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