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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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hatte nicht mehr nachgefragt.
    Und auch nichts gesagt, als sie ihr die Post hinhielt. Es war ein Brief von Antoine dabei gewesen. Abgestempelt in Lyon. Zoé hatte ihn ihrer Mutter gezeigt. Immer noch das Gleiche: Es geht mir gut, ich erhole mich, ich denke an meine geliebten kleinen Mädchen, ich werde euch bald wiedersehen, ich arbeite hart für euch. »Er kommt näher, Maman, er ist in Lyon« – »Ja, aber das erwähnt er in seinem Brief nicht …« – »Wahrscheinlich will er uns überraschen«. Dann hat er Paris also verlassen. Wann? Warum? Ich sollte meine Intermarché-Bonuspunkte kontrollieren und Nachforschungen anstellen, wenn das nächste Mal damit eingekauft wird.
    Vier Tage allein! Inkognito. In drei Stunden würde sie in St. Pancras aussteigen. Drei Stunden! Im zwölften Jahrhundert brauchte man drei Tage, um per Boot den Ärmelkanal zu überqueren. Drei Tage dauerte es, im gestreckten Galopp von Paris nach Avignon zu reiten, mit kurzen Pausen, um das Pferd zu wechseln. Mit längeren Pausen musste man zehn Tage einrechnen. Heutzutage geht alles so schnell, mir schwirrt der Kopf. Sie hatte niemandem gesagt, dass sie kommen würde. Weder Hortense noch Shirley oder Philippe. Auf Empfehlung ihres englischen Verlegers hatte sie ein Zimmer in einem romantischen Hotel in Kensington in der Nähe des Holland Park reserviert. Sie fuhr gewissermaßen ins Blaue.
    Allein, allein, allein, sang das Ruckeln des Zuges. Ruhe, Ruhe, Ruhe, hielt sie dagegen. England, England, England, antworteten die Zugräder. Frankreich, Frankreich, Frankreich, skandierte Joséphine, während draußen die Felder und Wälder vorbeiflogen, durch die die englischen Armeen während des Hundertjährigen Krieges so oft gezogen waren. Die Engländer scheuten nicht davor zurück, zwischen den beiden Ländern hin und her zu reisen. Sie fühlten sich in Frankreich zu Hause. Edward III . sprach nur Französisch. Königliche Patente, die Korrespondenz der Königinnen, der Klöster und der Aristokratie, Urkunden, Testamente, all das wurde auf Französisch oder Latein verfasst. Henry of Grosmont, der Duke of Lancaster und englische Verhandlungspartner von Du Guesclin, hatte ein frommes Buch auf Französisch geschrieben! Bei den Verhandlungen mit ihm brauchte Du Guesclin keinen Übersetzer. Der Begriff Vaterland existierte nicht. Man gehörte zu einem Herrn, einem Herrschaftsbereich. Man kämpfte für die Rechte seines Lehnsherrn, aber man scherte sich nicht darum, die Farben des Königs von Frankreich oder England zu tragen, und manche Soldaten ließen sich von höherem Sold auf die andere Seite locken. Du Guesclin hingegen blieb dem Königreich Frankreich sein Leben lang treu, und kein Fass voller Münzen brachte ihn dazu, seine Meinung zu ändern.
    »Warum hasst du mich, Joséphine?«, hatte ihre Mutter an jenem Abend gleich nach dem Eintreffen gefragt.
    Henriette hatte ihren großen Hut abgenommen, und es war, als hätte sie eine Perücke abgesetzt. Joséphine konnte ihr kaum ins Gesicht sehen: Sie sah aus wie eine runzlige Birne. Iris war noch nicht vom Einkaufen zurück.
    »Ich hasse dich nicht.«
    »Doch. Du hasst mich …«
    »Nein, natürlich nicht …«, hatte Joséphine gestammelt.
    »Du hast mich seit fast drei Jahren nicht mehr besucht. Findest du das normal für eine Tochter?«
    »Wir hatten noch nie eine normale Beziehung …«
    »Und wessen Schuld war das?«, hatte Henriette erwidert und die Lippen zu einem schmalen, verbitterten Strich zusammengekniffen.
    »Willst du damit sagen, dass es meine Schuld war?«, hatte Joséphine gefragt und traurig den Kopf geschüttelt.
    »Ich habe mich für Iris und dich aufgeopfert, und das ist nun der Dank!«
    »Das habe ich mein ganzes Leben lang gehört.«
    »Es ist ja auch die Wahrheit!«
    »Es gibt noch eine andere Wahrheit, über die wir nie gesprochen haben …«
    Schweigen ist immer die schlechteste Lösung, hatte sich Joséphine an diesem Abend angesichts der vorwurfsvollen Miene ihrer Mutter gesagt. Man kann Dinge nicht ein ganzes Leben lang totschweigen, irgendwann kommt der Tag, an dem uns die Wahrheit einholt. Ich bin dieser Aussprache mit meiner Mutter immer ausgewichen. Aber indem das Leben mich jetzt wieder mit ihr zusammenführt, befiehlt es mir zu sprechen.
    »Es gibt etwas, worüber wir nie geredet haben … Etwas Furchtbares, woran ich mich erst seit Kurzem wieder erinnern kann und was vieles erklärt …«
    Henriette hatte sich mit einer kleinen, ruckhaften Bewegung des Oberkörpers

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