Der langsame Walzer der Schildkroeten
Prozent Kakaoanteil. Charlotte Bradsburry ist gewöhnlich: Sie hat 132 457 Google-Treffer. Bald erscheint ein neuer Star auf der Bildfläche, und dann ist Charlotte Bradsburry abgemeldet.
Wer war schon Charlotte Bradsburry?
Sie legte sich auf den Boden und machte Bauchübungen. Zählte bis hundert. Stand auf und trocknete sich die Stirn ab. Er ist so unabhängig, so individualistisch, er verachtet den Prunk und das belanglose Chaos der Mode. Wie konnte er sich bloß in ein Google-Girl verlieben? Was ist passiert? Er verändert sich. Er sucht sich. Er ist noch jung, seufzte sie beim Zähneputzen und vergaß dabei, dass er ein Jahr älter war als sie selbst.
Wütend und traurig ging sie zurück ins Bett, verwundert darüber, traurig zu sein. War ich schon jemals traurig? Sosehr sie auch grübelte, sie konnte sich nicht daran erinnern, dieses Gefühl jemals zuvor empfunden zu haben, diese lauwarme, leicht Übelkeit erregende Mischung aus Verlassenheit, Ohnmacht und Wehmut. Weder Zorn noch Raserei. Traurig. Traurig, schon das Wort klingt so unschön! Wie lauwarmes Wasser. Und es bringt einem überhaupt nichts. Wahrscheinlich dauert es nicht lange, bis man sich darin suhlt. Wie meine Mutter. Ich will nicht so werden wie meine Mutter!
Sie knipste die billige Nachttischlampe mit dem rosa Schirm aus, die sie mit einem tulpenroten Schal abgedeckt hatte, um ihr Zimmer in ein rötliches Licht zu tauchen, und zwang sich, an ihre Modenschau zu denken. Sie musste unbedingt erfolgreich sein: Sie nehmen nur siebzig von eintausend. Ich muss dazugehören. Nicht das Ziel aus den Augen verlieren. I’m the best, I’m the best, I’m a fashion queen. In zwei Wochen stehe ich, Hortense Cortès, mit meinen Kreationen auf der Bühne, denn diese Charlotte Bradsburry kreiert nicht, sie ist bloß heiße Luft. Erfreut öffnete sie die Augen. Genau! Irgendwann wird kein Mensch mehr von ihr reden, und dann bin ich diejenige mit 132 457 und noch mehr Google-Treffern!
Sie erschauerte vor Freude, zog die Decke bis ans Kinn hoch und genoss ihre Rache. Plötzlich schrie sie leise auf: Charlotte Bradsburry! Sie würde am Tag der Modenschau da sein! In der ersten Reihe, mit ihrem perfekten Outfit, ihren perfekten Beinen, ihrem perfekten Auftritt, ihrer gelangweilten Miene, ihrer großen Sonnenbrille! Die Modenschau von Saint Martins war das Ereignis des Jahres.
Und er wird sie begleiten. Er wird neben ihr in der ersten Reihe sitzen.
Der Albtraum begann von Neuem.
Ein anderer Albtraum …
Joséphine saß grübelnd im Eurostar, der sie nach London brachte. Sie war geflohen, hatte in Paris ihre Schwester und ihre Mutter zurückgelassen. Zoé übernachtete ein paar Tage bei ihrer Freundin, um für ihre Abschlussklausuren zu lernen, »ich will ein Sehr gut bekommen, und bei Emma lerne ich wenigstens«. Die Vorstellung, allein mit Iris in der großen Wohnung zu bleiben, hatte sie an einen SNCF -Schalter getrieben, um eine Fahrkarte nach London zu kaufen. Sie hatte Du Guesclin in Iphigénies Obhut gegeben und ihre Tasche gepackt. Iris gegenüber hatte sie behauptet, sie fahre nach Lyon zu einer Konferenz über die Wohnformen ländlicher Grundherren im Mittalter, die von Élisabeth Sirot, einer Expertin für das zwölfte Jahrhundert, geleitet wurde.
»Sie hat gerade bei Picard ein großartiges Buch über das Wohnen im Mittelalter herausgebracht. Ein echtes Standardwerk.«
»Aha«, hatte Iris gemurmelt.
»Willst du wissen, wovon es handelt?«
Iris hatte ein leichtes Gähnen unterdrückt.
»Sie vertritt darin einen völlig neuen Ansatz. Vorher hat man sich nur für die Burgen interessiert, aber sie zeichnet das Alltagsleben anhand der einfachen Häuser nach. Die wurden lange vernachlässigt, erst jetzt beginnt man ihr archäologisches Potenzial zu erkennen. Sie haben die Strukturen der damaligen Zeit bewahrt, Wasserleitungen, Latrinen, Kamine. Es ist erstaunlich, in einem völlig unscheinbaren Haus reißt man nachträglich eingezogene Decken herunter, untersucht die Wände und findet plötzlich all die mittelalterlichen Elemente wieder, die Dekoration, die mit Zierleisten versehenen, bemalten Decken, alles, was das Leben der Menschen im Mittelalter ausmachte. Das Haus wird zu einer Art russischer Puppe mit seinen verschiedenen Epochenschichten, und ganz in der Mitte erscheint der mittelalterliche Kern, das ist einfach fantastisch!«
Sie hätte ihr notfalls das ganze Buch zusammengefasst, um ihre Lüge glaubwürdig klingen zu lassen.
Aber Iris
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