Der langsame Walzer der Schildkroeten
immer!«
Joséphine blies Trübsal.
Joséphine verließ kaum noch ihr Zimmer. Bücherstapel umringten ihr Bett. Wenn sie schlafen ging, stieg sie darüber hinweg.
Sie hatte keine Lust mehr, in Iphigénies farbenfrohe Loge hinunterzugehen. Sie war mittlerweile der reinste Salon, in dem man unentwegt plauderte und die jüngsten Morde kommentierte. Die absurdesten Gerüchte waren in Umlauf. Es ist ein durch sein Keuschheitsgelübde gefesselter Pfarrer, der gegen Rom rebelliert. Es ist der Metzger, das habe ich in einem Film gesehen, nur Metzger haben so scharfe, immer geschliffene Messer. Nein! Es ist ein Jugendlicher, voller Wut auf seine strenge Mutter; jedes Mal, wenn sie ihn bestraft, sucht er sich im Dunkeln eine einsame Frau als Opfer. Es ist ein Arbeitsloser, ein ehemaliger leitender Angestellter, der es nicht verkraftet hat, einfach entlassen worden zu sein, und sich jetzt auf diese Weise rächt. Und wieso hatten sich die Ermittlungen der Polizei auf Haus A beschränkt? Sogar jetzt stehen die noch im Mittelpunkt, bemerkte die Dame mit dem Pudel seufzend.
Jeder hatte seinen idealen Schuldigen und trumpfte mit verdächtigen Details, Galgenvogelgesichtern und weißen Regenmänteln auf. Wenn Iphigénie Joséphine bemerkte, winkte sie sie schwungvoll herein, damit sie sich zu ihnen setzte. Joséphine war eine interessante Quelle: Sie war mehrere Male von Inspecteur Garibaldi vorgeladen worden. Also musste sie über frische Informationen verfügen. Joséphine folgte ihrem Winken nur widerwillig. Sie hörte zu, nickte, antwortete: »Ich weiß nicht viel«, und es hatte nicht lange gedauert, bis man sie feindselig musterte, als wollten sie sagen: Ach, sind wir Ihnen etwa nicht gut genug?
In schmerzliches Schweigen versunken, saß Monsieur Sandoz allein in seiner Ecke und verschlang Iphigénie mit Blicken. Er versuchte ihr sein Liebesleid zu Gehör zu bringen, aber Iphigénie hatte Wichtigeres im Sinn und lauschte nur mit halbem Ohr. Flüsternd vertraute er sich Joséphine an und versteckte dabei seine Fingernägel, die er nie sauber genug fand.
»Sie traut sich nicht, mir zu sagen, dass ich zu alt bin. Dabei tue ich alles, um ihr zu gefallen.«
»Vielleicht übertreiben Sie es damit ja ein wenig«, antwortete Joséphine, die in Monsieur Sandoz’ Melancholie einen Widerhall ihres eigenen Kummers fand. »Liebe weckt man nicht durch Übereifer, im Gegenteil … Das predigt mir zumindest meine ältere Tochter ständig, und die ist eine Expertin in Sachen Verführung.«
»Ich kann aber nicht so tun, als wäre sie mir gleichgültig. In mir liest man wie in einem offenen Buch …«
Da haben wir das gleiche Problem, dachte Joséphine, ich bin auch vollkommen berechenbar und durchschaubar. Vierundzwanzig Stunden haben gereicht, damit er das Interesse verlor.
Monsieur Sandoz kam immer wieder in die Loge. Legte Blumen oder Pralinen auf die kleine Ikea-Konsole. Immer in seinem grauen Anzug, seinem weißen Hemd und dem weißen Regenmantel, den er bei jedem Wetter trug. Er wirkte wie ein sonntäglicher Flaneur.
»Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber das ist keine Frage des Alters, sondern … Sie sind einfach zu grau für Iphigénie.«
»Grau ist an mir wahrlich genug, Madame Cortès. Mein Herz ist voller Ruß …«
Bald würde auch sie über und über mit Ruß bedeckt sein.
Sechzehn Tage war es jetzt her, seit sie sich auf dem Bahnsteig von St. Pancras voneinander verabschiedet hatten. Sie markierte die Tage mit kleinen Strichen am Rand eines Hefts. Anfangs hatte sie die Stunden gezählt, doch das hatte sie bald aufgegeben. Zu viele kleine Striche verdüsterten ihre Laune. Seit sechzehn Tagen hatte sie nichts mehr von Philippe gehört. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, begann ihr Herz zu rasen, um dann wieder in Lethargie zu versinken. Denn er war es nie. Warum ruft er nicht an? Sie hatte eine Liste mit möglichen Gründen aufgestellt und wog das Für und Wider der einzelnen Alternativen ab.
Er hat sein Handy und meine Nummern verloren? Unwahrscheinlich.
Er hatte einen Unfall? Davon hätte sie gehört.
Er steckt bis über beide Ohren in Arbeit? Kein triftiger Grund.
Er hat Dottie Doolittle wiedergesehen? Möglich. Sie kritzelte ein Paar Ballerinas und Ohrringe.
Er liebt Iris immer noch? Möglich. Sie zeichnete zwei große blaue Augen und brach dabei die Spitze ihres Bleistifts ab.
Er weiß nicht, wie er es Alexandre erklären soll? Oder Zoé? Wahrscheinlich. Schließlich habe ich den Mädchen ja
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