Der langsame Walzer der Schildkroeten
musste sie abrupt das Zimmer verlassen, wenn Joséphine von ihren Forschungen zu reden begann, ihrer Habil, ihrer Kabil oder ihrer Mabil, sie konnte sich diese hirnverbrannte Abkürzung einfach nicht merken. Aber in Anbetracht der Umstände war das Leben bei ihrer Schwester immer noch angenehmer als allein zu Hause mit Carmen, die an ihr klebte wie Fliegenpapier. Und außerdem … war Hervé nicht fern. Ihr war aufgefallen, dass er für ihre Verabredungen immer Orte wählte, wo ihn niemand kannte. Sie sahen sich nie am Wochenende. Montagmorgens wartete sie darauf, dass ihr Handy klingelte. Sie hatte ihm einen eigenen Klingelton zugewiesen. Sie legte das Handy auf ihr Kopfkissen. Und wartete ab, bis es dreimal, viermal geklingelt hatte, ehe sie das Gespräch annahm. Sie musste sich eingestehen, dass sie ihre Zeit damit verbrachte, auf ihn zu warten. Mir bleibt ja auch nichts anderes übrig, sagte sie sich hellsichtig. Der August rückte näher. Seine Frau und seine Kinder würden die Ferien in dem großen Haus auf Belle-Île verbringen.
Sie breitete eine weite weiße Bluse mit Stehkragen aus. Der würde die Falten an ihrem Hals verstecken. Sie zog die Nadeln heraus, stach sich an einer der Nadeln in den Finger und bemerkte entsetzt, dass sie einen winzigen Blutfleck auf dem schönen Kleid von Bottega Veneta hinterlassen hatte.
Sie fluchte wütend. Wie entfernte man Blut aus elfenbeinfarbener Baumwolle? Sie würde Carmen anrufen müssen.
Henriette verließ die Métro-Station Buzenval und bog nach rechts in die Rue des Vignoles ab. Vor dem heruntergekommenen Haus, in dem Chérubine lebte, blieb sie stehen und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Ihr rechter Zeh brachte sie um, und ihr Ischias bereitete ihr stechende Schmerzen. Sie war einfach zu alt, um noch mit der Métro zu fahren, die Treppen rauf und runter zu steigen und gegen fremde Menschen mit übel riechenden Achseln gepresst zu werden. Selbst wenn sie ihren Hut abnahm und billige Kleidung anzog, schien es ihr immer noch, als starrte man sie an. Als wüssten die Leute, dass sie Geldscheine in ihrem Büstenhalter versteckt hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, um dem Angriff eines dunkelhäutigen Rüpels vorzubeugen, und setzte die Miene einer schlecht gelaunten Alten auf, mit der man sich lieber nicht anlegte. Manchmal, wenn sie ihr Spiegelbild in einem Schaufenster sah, bekam sie vor sich selbst Angst. Sie lachte darüber, die Nase tief in ihren mit »Jicky« von Guerlain parfümierten Schal vergraben. Sie sprühte sich immer ausgiebig mit »Jicky« ein, wenn sie die Métro nahm. Das war die einzige Möglichkeit, nicht ohnmächtig zu werden. Sie war noch nie überfallen worden, doch je häufiger sie die Métro nahm, desto größer wurde ihr Groll und desto grimmiger wurde ihre Miene.
Sie machte sich an den langsamen Aufstieg durch das Treppenhaus, ihr wurde übel von dem Geruch nach abgestandenem Kohl, sie musste auf jedem Absatz eine Pause einlegen und erreichte schließlich die dritte Etage. Sie betastete ihren Büstenhalter und seufzte. Wie sie diese Scheinchen liebte! Wie weich und angenehm sie sich unter ihren tastenden Fingern anfühlten! Sie raschelten leise, anrührend, ein Geräusch wie ein Vögelchen, das sich die Federn zaust. Sechshundert Euro, also wirklich! Um ein paar Nadeln irgendwo reinzustechen. Das war nicht gerade geschenkt. Und Resultate sehe ich keine. Egal, wie oft ich mich unter Marcels Fenstern herumtreibe, es liegt keine zerschmetterte Leiche auf dem Bürgersteig. Ich habe mich bei der Gendarmerie erkundigt, nichts. Weder Unfall noch Selbstmord. Wenn das so weitergeht, leert sich mein Bankkonto so schnell wie eine Badewanne, aus der man den Stöpsel gezogen hat! Das ist die sechste Rate. Sechsmal sechs, sechsunddreißig, macht dreitausendsechshundert verschwendete Euro. Das ist zu viel! Viel zu viel.
Ihr Blick fiel auf das Schild über der Klingel: Läuten Sie hier, wenn Sie verloren sind . Bin ich verloren? Bin ich eine dieser armen, hilflosen Frauen, die zu allem bereit sind, um ihren Mann zurückzubekommen? Auf keinen Fall. Ich blühe auf in meiner selbstgewählten Ehelosigkeit, meine kleinen Einsparungen hier und da haben mich an die Spitze eines florierenden Unternehmens gebracht. Ich häufe immer mehr Geld an und hatte noch nie im Leben so viel Spaß. Ich bestehle Bettler, stibitze hier, betrüge da und schaffe es so, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne auch nur einen Cent auszugeben. Und gleichzeitig
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