Der langsame Walzer der Schildkroeten
verschleudere ich ein Vermögen an diese fette Scharlatanin! Irgendwas stimmt doch hier nicht, meine liebe Henriette. Reiß dich am Riemen! Sie betrachtete das Schild eine Weile und sagte dann mit erhobener Stimme: »Und ich läute nicht!«
Sie drehte sich auf dem Absatz um.
Ich war dabei, mich zu verrennen, dachte sie auf der Rückfahrt in der Linie neun, während sie ihren Busen betastete und dem leisen Rascheln lauschte. Was kümmert es mich, ob Josiane und Marcel es sich gut gehen lassen? Bin ich jetzt nicht viel glücklicher als früher? Er hat mir einen Gefallen getan, indem er sich aus dem Staub gemacht hat. Er hat meinem Leben einen Sinn gegeben, und ich muss zugeben, davon hatte es vorher nicht viel. Jetzt lasse ich es krachen, wie diese jungen Kretins sagen würden.
Erst gestern hatte sie bei Hédiard gestohlen. Jawohl, gestohlen. Sie hatte das Geschäft betreten, um ihre übliche rührselige Nummer als alte, vom Leben gebeutelte Frau abzuziehen – sie hatte ihre löchrigen Leinenschuhe und ihren Armeleutemantel angezogen, denn es ist ja bekannt, dass die Armen sich sommers wie winters gleich anziehen –, und wartete auf eine Gelegenheit, ihr Klagelied anzustimmen, als ihr plötzlich auffiel, dass sie allein im Laden war. Die Verkäuferinnen waren alle im Untergeschoss, wo sie vor sich hin schnatterten oder vorgaben zu arbeiten. Sie hatte ihre große Einkaufstasche geöffnet und sie vollgestopft: mit rotem Sancerre, Balsamico-Essig (einundachtzig Euro für ein Halbliterfläschchen), Gänsestopfleber, Fruchtgelee, Schokolade, Gurkensuppe, Gemüsesuppe mit Knoblauch und Basilikum, Cashewnüssen, Pistazien, Mandelkonfekt, vietnamesischen und chinesischen Frühlingsrollen, mehreren Scheiben von der Lammkeule, Eiern in Aspik, verschiedenen Käsesorten. Sie hatte alles eingesackt, was in ihrer Reichweite war. Die Tasche war schwer, sehr schwer geworden. Sie hätte sich beinahe die Schulter ausgerenkt. Aber welche Freude! Warmer Schweiß rann ihr über die Arme. Das ist doch nur ausgleichende Gerechtigkeit: Ich habe die Armen bestohlen, und jetzt bestehle ich die Reichen! Das Leben ist wundervoll.
Mein Gehirn muss vorübergehend ausgesetzt haben, als ich mich in die Hände dieser fetten Qualle begeben habe. Ich hatte meinen Verstand an der Garderobe abgegeben. Ich könnte sie sogar anzeigen, diese Chérubine. Ich bin mir sicher, dass es illegal ist, was sie da treibt. Und sie versteuert bestimmt nicht einen Cent von ihren Einnahmen! Wenn sie mir mit ihren kleinen Nadeln droht, warne ich sie: Ich zeige sie bei der Polizei und beim Finanzamt an. Dann wird sie es sich zweimal überlegen.
Ach was! Wenigstens habe ich sechshundert Euro gespart. Sechs wundervolle Hunderteuroscheine, die sich glücklich an meinen Busen kuscheln. Schlaft ruhig, meine kleinen Lieblinge! Maman passt auf euch auf!
Außerdem wurde es höchste Zeit, dass diese heimlichen Abhebungen von ihrem gemeinsamen Konto aufhörten. Womöglich wäre Marcel noch misstrauisch geworden. Er hätte auf die Idee kommen können, Nachforschungen über ihre unerwarteten Ausgaben anzustellen.
Sie war noch einmal davongekommen.
Sie segnete diesen Julitag, an dem sie endlich ihren gesunden Menschenverstand wiedergefunden hatte. Was sind das doch für brave, anständige Leute in diesem Abteil! Es ist ja nicht ihre Schuld, dass sie nicht lächeln. Es sind arme Teufel. Wenn sie schon gezwungen sind, mit mühseliger, schlecht bezahlter Arbeit ihr Dasein zu fristen, kann man nicht auch noch von ihnen verlangen, gut zu riechen und zu lächeln. Auch wenn ein Stück Seife nicht so teuer ist …
Außerdem, dachte sie, von einer Woge des Glücks davongetragen, muss man auch verzeihen können. Nun denn! Ich verzeihe ihm, dass er gegangen ist. Ich verzeihe ihm und werde meinen Anwalt anweisen, die Scheidung einzuleiten. Ich werde ihn bluten lassen, aber ich gebe ihm seine Freiheit wieder. Ich behalte die Wohnung und verdopple die Unterhaltszahlungen, die er mir anbietet. Dazu noch das Geld, das ich verdiene, indem ich die Armen und die Reichen bestehle, und ich bin bald Millionärin!
Quietschvergnügt stieg sie aus der Bahn, ging, mit beiden Händen ihren Busen schützend, leichten Schrittes die Treppe hinauf und ließ eine Zwanzigcentmünze auf den Teller eines Bettlers fallen, der auf den Stufen der Métro-Station lag.
»Danke, gute Frau«, sagte der Alte und lüpfte seine Mütze. »Möge Gott es Ihnen hundertfach vergelten! Gott erkennt die Seinen
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