Der langsame Walzer der Schildkroeten
Schublade, die er nach der Nachbarin geworfen hatte, murmelte »Ich …« und verstummte. Nie wieder würde sie sich einem Polizisten anvertrauen.
»Nein. Niemand. Und ich bedauere sehr, dass ich überhaupt hergekommen bin und mit Ihnen gesprochen habe!«
»Sie haben der Polizei Ihres Landes einen Dienst erwiesen und, wer weiß, vielleicht sogar der Gerechtigkeit …«
»Ich werde nie wieder irgendetwas sagen. Nicht einmal, wenn der Mörder mir alles gestehen und mir sämtliche Einzelheiten verraten sollte!«
Er lächelte kurz und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
»Dann wäre ich gezwungen, Sie wegen Mittäterschaft zu verhaften. So, wie ich es von Beginn der Ermittlungen an vermutet habe.«
Joséphine starrte ihn mit offenem Mund an. Er würde doch jetzt nicht schon wieder damit anfangen!
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie hilflos.
»Ja. Und denken Sie daran: Kein Wort zu irgendjemandem! Und falls Sie Ihren Mann sehen sollten, versuchen Sie, bei Ihrer nächsten Aussage etwas präziser zu sein. Notieren Sie sich Datum, Uhrzeit, Ort und die genauen Umstände. Das wird uns helfen.«
Joséphine nickte zitternd und ging hinaus, ohne ihm die Hand zu geben oder sich von ihm zu verabschieden.
Im alten gepflasterten Hof des Gebäudes Quai des Orfèvres 36 entdeckte sie Pinarelli junior, der gerade einem jungen Polizisten in Jeans und Lacoste-Shirt eine Reihe von Kampfübungen zeigte. Er bewegte sich geschmeidig und führte einige schnelle Angriffe aus, denen der junge Mann nur um Haaresbreite entging.
Als er sie bemerkte, unterbrach er seine Demonstration und kam auf sie zu.
»Na? Gibt’s was Neues?«, fragte er mit gierigem Blick.
»Nur das Übliche. Ich weiß gar nicht, warum sie mich immer wieder herbestellen. Das muss so eine Art Manie von ihnen sein!«
»Täuschen Sie sich nicht, die wissen ganz genau, was sie tun. Sie sind gut, richtig gut! Sie verwirren uns, sie befragen alle, entlocken uns Informationen, tun so, als hörten sie uns zu, aber in Wahrheit lenken sie uns ganz behutsam dahin, wo sie uns haben wollen!«
Und ich bin in ihre Falle getappt, dachte Joséphine. Kopfüber hineingestürzt. Garibaldi hat sich meine Hirngespinste über 2H und die beiden Hervés angehört, hat etwas Interesse geheuchelt und ist dann gleich zu Antoine übergegangen. Besser gesagt, ich habe ihm Antoine auf dem Silbertablett präsentiert. Ohne dass er mich darum gebeten hätte.
»Ein attraktiver Mann, dieser Garibaldi! Anscheinend hat er großen Erfolg bei Frauen. Ein cleverer Kerl! Er sorgt dafür, dass einem unbehaglich zumute wird, lässt anklingen, dass er einen verdächtigt, bringt einen aus dem Konzept, und zack! versetzt er einem den Todesstoß. Wie beim Krav Maga! Kennen Sie Krav Maga?«
»Nein …«
»Ich habe es gerade dem jungen Inspecteur hier demonstriert. Krav Maga wurde von der israelischen Armee entwickelt. Um den Gegner zu töten. Es ist weder eine Form der Kampfkunst noch eine Sportart, sondern die Kunst des blitzschnellen Tötens. Alle Schläge sind erlaubt. Man darf auf die Genitalien zielen und den Gegner beleidigen …«
Ein freudiges Funkeln leuchtete in seinen Augen.
Sie erinnerte sich daran, wie er Iphigénie beschimpft hatte. An den brutalen Schlag, den er ihr versetzt hatte, als sie dazwischengehen wollte, und daran, wie behände er die Treppe hinaufgelaufen war. Ich könnte Garibaldi von ihm erzählen. Dann hätte er noch eine Spur. Ich muss unbedingt hier weg! Ich sehe überall Mörder.
Draußen auf der Straße hob sie den Kopf und sah Notre-Dame de Paris. Sie blieb eine Weile stehen und betrachtete die Fassade. Als sie die Busladungen von Touristen bemerkte, die in die Kathedrale strömten, verzog sie das Gesicht. Das war keine Kirche mehr, sondern der Lido oder das Moulin Rouge.
Sie schaute auf ihre Uhr. Sie hatte zwei Stunden bei der Polizei verbracht. Zwei Stunden, in denen sie nicht an Philippe gedacht hatte.
Der Lurch war nach London gekommen und traf sich mit Philippe zum Mittagessen. Er hatte das Restaurant im Claridge’s gewählt und übersäte das weiße Tischtuch mit Abdrücken seiner kurzen Fingernägel.
»Weißt du, worauf die Weiber heute abfahren? Auf Kohle. Sonst nichts. Ich bin zwar kein Adonis, aber ich krieg sie alle ins Bett! Neulich hat mich eine bei einem Empfang böse abblitzen lassen, und dann hat sie mich plötzlich angerufen! Glaub’s nur, alter Junge! Sie hat wohl rausgekriegt, was ich wert bin, und kam angekrochen. Aber dafür hat sie
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