Der langsame Walzer der Schildkroeten
Independent . Ging die Brook Street entlang, an den schönen weißen Häusern des Grosvenor Square vorbei, dachte an die Forsythes und Das Haus am Eaton Place , bog in die Park Lane ein und betrat den Hyde Park. Pärchen schliefen eng umschlungen auf den Rasenflächen. Kinder spielten Cricket. Junge Mädchen lagen in den Liegestühlen, hatten ihre Jeans hochgekrempelt und bräunten sich. Ein von Kopf bis Fuß weiß gekleideter Herr stand reglos auf dem Rasen und las Zeitung. Auf Skateboards hockende Jungen strichen haarscharf an Joggern vorbei. Er würde bis zum Serpentine-See gehen und sich dann Richtung Bayswater Road wenden. Oder er würde sich ins Gras legen und sein Buch zu Ende lesen. Frauenlicht von Romain Gary. Ich hätte dem Lurch Auszüge daraus vorlesen sollen. Ihm sagen sollen, dass ein Mann, ein richtiger Mann, keine Frauen verprügelt oder sich von namenlosen Prostituierten einen blasen lässt, sondern Sätze schreibt wie: »Ich weiß wirklich nicht, was Weiblichkeit ist. Vielleicht ist es nur eine besondere Art, Mann zu sein.« Ich verabscheue ihn, weil mich der Mann anwidert, der ich einst war und der mit ihm zusammen lachte. Und den Mann, zu dem ich gerade werde, kenne ich noch nicht. Jeder Tag befreit mich von einem Teil meines alten Ichs. Und ich lasse mich mit der gelassenen Bereitwilligkeit desjenigen entkleiden, der hofft, dass die neuen Kleider abgetragen genug sein werden, damit er sich darin wohlfühlt.
Seit achtzehn Tagen war sie nun fort, seit achtzehn Tagen hatte er nichts von sich hören lassen. Was kann man nach achtzehn Tagen einer Frau sagen, die zu einem gekommen ist, die einen bei der Hand genommen und sich einem rückhaltlos hingegeben hat? Dass er vor dieser verschwenderischen Fülle zurückschreckte? Dass er vor Angst wie versteinert war? Er sagte sich, dass seine Arme niemals groß genug sein würden, um die ganze Liebe aufzunehmen, die Joséphine verschenkte. Er würde Wörter erfinden müssen, Sätze, Schwüre, Container, Güterzüge, Rangierbahnhöfe. Sie war in ihn hineingetreten wie in ein leeres Zimmer.
Sie hätte nicht gehen sollen. Dann hätte ich das Zimmer mit ihren Worten, ihren Gesten, ihrer Hingabe eingerichtet. Ich hätte ihr ganz leise zugeflüstert, dass sie nicht zu schnell machen soll, dass ich noch Anfänger bin. Man kann sich auf einem Bahnsteig zu einem Kuss hinreißen lassen, kann diesen Kuss, ohne groß nachzudenken, vor einer Ofentür wiederholen, aber wenn plötzlich alles möglich wird, weiß man nicht mehr weiter.
Er hatte einen Tag verstreichen lassen, zwei Tage, drei Tage … achtzehn Tage. Und vielleicht neunzehn, zwanzig, einundzwanzig. Einen Monat … drei Monate, sechs Monate, ein Jahr. Und dann wäre es zu spät. Bis dahin werden wir uns beide in steinerne Statuen verwandelt haben. Wie soll ich ihr erklären, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin? Ich habe die Adresse gewechselt, das Land, die Frau, den Beruf, vielleicht sollte ich auch meinen Namen ändern. Ich weiß überhaupt nichts mehr über mich. Aber ich weiß, was ich nicht mehr sein will, wohin ich nicht mehr zurückwill.
Auf dem Rückflug von der documenta hatte er in der ersten Klasse gesessen, in einem Kunstkatalog geblättert, Bilanz seiner Käufe gezogen und sich gesagt, dass er wohl würde umziehen müssen, in seiner Wohnung wäre niemals genug Platz, um alle Stücke seiner Sammlung unterzubringen. Umziehen? Zurück nach Paris oder innerhalb Londons? Mit ihr, ohne sie? Da war plötzlich eine Frau zu ihm herübergekommen. Groß, schön, elegant, geschmeidig. Der Inbegriff strahlender Weiblichkeit. Langes, mittelbraunes Haar, Katzenaugen, das Lächeln einer selbstgewissen Prinzessin, am rechten Handgelenk zwei schwere dreifarbige Goldarmreife, am linken die Chanel-Uhr, eine Handtasche von Dior. Ach was, hatte er gedacht, es gibt tatsächlich Kopien von Iris. Sie hatte ihn angelächelt. »Wir sind nur zu zweit, da wäre es doch albern, wenn jeder für sich an seinem Platz essen würde.« Albern! Das Wort hatte in seinem Kopf widergehallt. Es war ein Wort aus Iris’ Wortschatz. Das ist doch wirklich albern! Was für ein alberner Kerl! Ohne zu fragen, hatte sie ihr Tablett neben ihn gestellt und wollte sich gerade hinsetzen, als er sich antworten hörte: »Nein, Madame, ich esse lieber allein.« Denn ich kenne Sie, hatte er stumm hinzugefügt. Sie sind schön, elegant, sicher intelligent, sicher geschieden, sie wohnen in einer guten Gegend, haben zwei oder drei Kinder, die gute
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