Der langsame Walzer der Schildkroeten
Abend angerufen. Ich habe sie zum Essen eingeladen, und sie hat angenommen. Wir treffen uns nächste Woche. Ich habe im Ritz reserviert.«
»Sie muss ihre Ansprüche ziemlich runtergeschraubt haben«, kommentierte Philippe, während er behutsam ein Seezungenfilet ablöste.
»Oder sie braucht Kohle. Sie ist nicht mehr die Jüngste, wie du weißt. Ihre Ansprüche sind ganz sicher nicht mehr die alten. Ich habe eine Chance. Jedenfalls muss ich dringend wieder heiraten. Das kommt beruflich besser an, und in der Beziehung gibt es keine Bessere als Iris.«
»Du hast vor, sie zu heiraten?«
»Ring am Finger, Vertrag, das komplette Programm … Okay, Kinder gibt’s nicht mehr, aber das ist mir egal, ich hab ja schon zwei. Die machen sowieso nur Ärger!«
Er hob das Rotweinglas an seine dicken Lippen, saugte etwas Château Pétrus ein und nickte mit Kennermiene.
»Nicht schlecht, nicht schlecht. Aber bei dem Preis ist das ja auch das Mindeste … Okay, wie sieht’s aus? Habe ich freie Bahn?«
»Du hast sogar eine komplette Autobahn. Aber es würde mich nicht wundern, wenn sie sich bei der ersten Ausfahrt verdrückt …«
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und ich muss sagen, sie würde was hermachen! Durch die Hochzeit mit der schönen Iris poliere ich mein Image ordentlich auf.«
Er lachte röchelnd und spuckte ein Stück Essen aus, das sich in seiner Kehle verfangen hatte. Dann riss er ein Brötchen auf und bestrich es mit Butter. Er hatte bereits drei Ringe um die Taille und arbeitete fleißig an einem vierten.
»Kann ich dich etwas fragen, Raoul?«
Der Lurch lächelte großspurig.
»Schieß los, Alter, ich hab keine Angst!«
»Warst du jemals verliebt, ich meine, richtig verliebt?«
»Einmal«, antwortete der Lurch und wischte sich die Finger am Tischtuch ab.
Traurigkeit verschleierte sein rechtes Auge, und sein Lid zuckte nervös. Philippe schöpfte neue Hoffnung. Dieser abscheuliche Mann hat ein Herz, dieser abscheuliche Mann hat gelitten.
»Und hattest du jemals echten, großen Liebeskummer?«
»Bei der gleichen Frau. Ich wär fast gestorben, so dreckig ging’s mir. Ich schwör dir, ich habe mich selbst nicht mehr wiedererkannt.«
»Und wie lange hat dein Liebeskummer gedauert?«
»Eine Ewigkeit! Ich habe sechs Kilo verloren! Und das will was heißen … Mindestens drei Monate. Dann haben mich ein paar Kumpel eines Abends in einen etwas speziellen Club mitgenommen, du verstehst schon, und da hab ich mir vier Weiber hintereinander gegönnt, vier geile Nutten, die mir ordentlich einen geblasen haben, und zack, war alles vorbei! Aber die drei Monate, Alter, die haben sich da eingebrannt …«
Er legte eine Hand auf sein Herz und verzog das Gesicht wie ein trauriger Clown. Am liebsten hätte Philippe laut aufgelacht.
»Nimm dich in Acht bei Iris! Sie hat kein Herz in der Brust, sondern einen Eisblock!«
Der Lurch hob seine dicken, in ein Paar Tods gezwängten Füße hoch bis zur Tischkante.
»Keine Sorge! Ich kann Schlittschuh laufen! Dann ist alles geklärt, ich hab deinen Segen? Das bringt uns keinen Ärger in die Kanzlei?«
»Für mich ist die Sache abgehakt, und zwar endgültig!«
Und das ist nicht gelogen, wunderte sich Philippe, der sich dabei erwischt hatte, plötzlich in den Tonfall des Lurchs zu verfallen.
Nach dem Essen ging Philippe zu Fuß nach Hause. Seit er in London lebte, ging er häufig zu Fuß. Das war die einzige Möglichkeit, sich diese Stadt zu erschließen. »Der Unterschied zwischen Paris und London besteht darin, dass Paris für den Fremden da ist und London für den Londoner. England hat London zu seinem eigenen Nutzen erbaut. Frankreich erbaute Paris für die ganze Welt«, hatte Ralph Waldo Emerson einmal geschrieben. Wer die Stadt kennenlernen wollte, musste seine Schuhsohlen verschleißen.
Wenn ich mir vorstelle, dass ich mit dem Lurch zusammengearbeitet habe! Ich habe ihn ausgewählt, ihn eingestellt, ich habe ganze Abende mit ihm zusammengesessen und Verträge vorbereitet, ich habe mit ihm den Flieger genommen, getrunken, gegessen, über den zu kurzen Rock einer Stewardess gegrinst; in Rio haben wir einmal ein Zimmer geteilt, weil das Hotel ausgebucht war. Er trug schwarze Slips, die er im Dreierpack vom Drehständer des Supermarkts nahm, wo er seine Singleeinkäufe erledigte, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Eine hübsche Brünette mit langem, vollem Haar. Sich an Iris ranmachen! Der hat ja Nerven.
An einem Zeitungskiosk kaufte er Le Monde und den
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