Der langsame Walzer der Schildkroeten
ihn wirklich zurück haben wollten … Es wäre ja nicht so kompliziert gewesen, zurückzukommen und nach ihm zu fragen, oder?«
»Natürlich nicht«, antworteten Joséphine und Philippe wie aus einem Mund. Gebannt hingen sie an den verschleierten Augen des Mannes, am Kummer, der zurückkehrte und seinen Blick trübte, an den alten Fingern, die unentwegt die Kekse eintunkten.
»Eines schönen Tages kam eine Frau anspaziert. Von der Fürsorge. Évelyne Lamarche. Mager, herrisch, unfreundlich. An diesem Tag hatte sie ›Hervé Le Floc-Pignel‹ in ihrem Notizbuch stehen. Sie hat entschieden, dass er mit ihr gehen soll. Einfach so! Ohne uns zu fragen, weder ihn noch mich! Als ich protestiert habe, hat sie nur gesagt, so wäre eben das Gesetz. Weil er einen Namen brauchte, hat sie gesagt, dass er von da an Hervé Lefloc-Pignel heißen würde. Und dass sie ihn in einer Pflegefamilie unterbringen würde. Ich wollte ihn nicht gehen lassen, ich habe gesagt, ich sei doch seine Pflegefamilie, aber darauf hat sie nur geantwortet, dass man dazu auf einer Liste stehen müsse. Dass es Unmengen von Leuten gebe, die auf Kinder warteten, und dass ich mich nie auf diese Liste hatte setzen lassen. Herrgott, ich hatte ja auch nie auf ein Kind gewartet!«
Er wischte sich erneut über die Augen, faltete sein Taschentuch zusammen, steckte es zurück in die Tasche und fegte mit dem Ärmel die Krümel vom Tisch.
»Innerhalb von drei Minuten war er weg. Sechs Jahre hatte er bei mir gelebt. Er hat geschrien, als sie ihn mitgenommen hat, er hat sie gekratzt, gebissen und getreten. Aber sie hat ihn einfach ins Auto gestoßen und die Tür abgeschlossen. Er schrie: ›Opa! Opa!‹ So nannte er mich. Ich war damals noch nicht alt, aber er nannte mich trotzdem so … Ich dachte, ich müsste sterben. Innerhalb einer Nacht sind meine Haare weiß geworden.«
Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und strich sich die Augenbrauen glatt.
»Ich weiß nicht, was sie mit ihm gemacht haben, aber überall, wo sie ihn hinsteckten, lief er weg. Und kam zu mir zurück. Damals hörte man nicht auf Kinder, und ausgesetzte Kinder durften erst recht nicht den Mund aufmachen. Aber eines habe ich ihm gesagt, ich habe ihm gesagt, sei fleißig in der Schule, das ist deine einzige Chance, irgendwann aus dieser Misere rauszukommen. Und er hat auf mich gehört. War immer Klassenbester … Eines Tages kam er ohne Sophie zurück. Der Vater der Familie, in die man ihn gesteckt hatte, war ein tobsüchtiger Irrer, ein ehemaliger Fallschirmjäger. Das ganze Haus hatte Angst vor ihm, was er sagte, war Gesetz. Und er war vollkommen verrückt. Bettenmachen so akkurat wie beim Militär, Toiletten mit der Zahnbürste schrubben, ja, Chef, nein, Chef, zu Befehl, Chef! Beim geringsten Fehler schlug er zu. Der Junge hatte Brandnarben am ganzen Körper. Die Frau sagte nichts dazu. Wenn er weinte, sagte sie: ›Mach es so, wie der Chef gesagt hat! Er hat recht. Du musst lernen, zu arbeiten und zu erdulden!‹ Sie hatten mehrere Jungen in Pflege genommen, um kostenlose Arbeitskräfte zu bekommen. Die Frau kümmerte sich nicht um sie. Nie. Sie hatte eine sehr intensive Beziehung zu ihrem Mann. Bevor er von der Arbeit nach Hause kam, musste sie sich für ihn bereit machen. Sie zog Strumpfhalter, Strümpfe und aufreizende Unterwäsche an. Dann stolzierte sie in Büstenhalter und Höschen vor den Jungen herum. Er kam nach Hause, streichelte sie vor den Kindern und zwang sie zuzusehen, damit sie etwas über das Leben lernten! Tom erzählte mir, dass die Kleineren sich manchmal übergaben, weil sie sich so sehr davor ekelten. ›Aber ich nicht‹, sagte er. ›Ich sehe absichtlich hin, um ihm zu zeigen, dass ich mich einen feuchten Dreck darum schere!‹ Der Mann hatte ihm befohlen, immer der Beste in seiner Klasse zu sein, sonst werde er bestraft. Und eines Tages kam er mit einem schlechten Zeugnis nach Hause. Da hat der Irre Sophie genommen und sie auf dem Küchentisch kurz und klein geschlagen. Mit einem Hammer. Und danach hat er etwas Grauenvolles von ihm verlangt: Tom sollte Sophies zermalmte Leiche in den Mülleimer werfen. Da muss er ungefähr dreizehn gewesen sein. Er ist auf den Mann losgegangen und hat versucht, mit ihm zu kämpfen, aber der Kerl hat kurzen Prozess mit ihm gemacht. Als er hier ankam, war er blutüberströmt … Und wissen Sie was?«
Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen, und er schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Die Frau von der Fürsorge ist wiedergekommen!
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