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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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Mit ihrem kleinen Notizbuch, ihrem engen, kurzen Rock und ihrem kleinen Haarknoten! Und sie hat ihn mitgenommen! Er hasste diese Frau. Jedes Mal, wenn er irgendwo weggelaufen war, holte sie ihn bei mir ab und steckte ihn in eine neue Familie von Irren, die ihn Holz hacken, auf dem Feld arbeiten, den Haushalt erledigen, den Rasen mähen, anstreichen, schleifen oder die Klärgrube reinigen ließen. Er bekam kaum etwas zu essen, wurde geschlagen, aber sie, sie sagte immer, dass man seine Aufsässigkeit endlich brechen müsse. Eine Sadistin, sage ich Ihnen. Es machte mich krank. Nichts machte mir mehr Freude. Ich habe die Werkstatt vernachlässigt … 1974 setzte Giscard die Volljährigkeit auf achtzehn Jahre herunter. Zwei Jahre später machte Tom sein Abitur mit ›sehr gut‹. Mit gerade mal sechzehn. Ich habe keine Ahnung, wie er das geschafft hat! Dann hat er sich wie ein Verrückter in sein Studium gestürzt. Er kam mich kaum noch besuchen … Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, kam er mitten in der Nacht mit einem Freund hier an. Sie waren schon reichlich angetrunken und sagten, sie hätten die Schlampe fertiggemacht … Er hat sogar gesagt: ›Ich habe mich gerächt, ich habe reinen Tisch gemacht.‹ Ich habe ihm gesagt, dass man nicht reinen Tisch macht, indem man sich rächt. Sein Freund hat gelacht. ›Ist der Typ bescheuert, der hat ja überhaupt nix kapiert.‹ Ich bin wütend geworden. Tom hat ihn aufgefordert, sich zu entschuldigen … Ich nannte ihn ja weiterhin Tom. Seinem Freund ist das aufgefallen, und er hat zu mir gesagt: ›Das ist nicht Tom, das ist Hervé. Warum nennst du ihn Tom? Hast du was gegen Hervé?‹ Ich sagte: ›Nein, ich habe nichts gegen Hervé, aber ich nenne ihn trotzdem Tom‹, und er darauf: ›Dann ist es ja gut, ich heiße nämlich auch Hervé, und ich bin auch so ein Fürsorgekind, und um mich hat sich auch die blöde Schlampe Évelyne gekümmert, und mein Leben hat sie auch ruiniert …‹«
    »Wie hieß dieser Hervé mit Nachnamen?«, fragte Joséphine.
    »Ich weiß es nicht mehr. Ein komischer Name. Belgisch … van irgendwas … Aber ich habe ihn mir notiert. Ich habe alles in ein Heft geschrieben, nachdem sie weg waren. Es lag so viel Gewalt in dieser Szene, dass ich alles aufgeschrieben habe. Manchmal, wenn die Dinge zu grausam werden, streicht man sie aus seinem Gedächtnis, man will sich nicht mehr daran erinnern. Wenn Sie wollen, kann ich für Sie nachsehen.«
    »Das ist sehr wichtig, Monsieur Graphin«, antwortete Joséphine.
    »Ihnen liegt so viel daran?«, fragte er und zog die weißen Augenbrauen hoch. »Ich hole es Ihnen. Es liegt in einer Schachtel … Der Schachtel mit meinen Erinnerungen. Und da sind nicht nur schöne Sachen drin, kann ich Ihnen sagen!«
    Er schlurfte zu einem Regal hinüber und bat Philippe, eine staubbedeckte Dose herunterzuholen.
    Er grub ein Notizheft aus, öffnete es behutsam und blätterte darin. Der Staub wirbelte in kleinen Flocken auf, und er nieste. Zog sein Taschentuch heraus. Wandte sich wieder dem Heft zu und wischte sich über die Augen. Las ein Datum: 2. August 1983.
    »Van den Brock. Das war’s, er hieß van den Brock. Er hatte den Namen seiner neuen Familie angenommen. Aber er hatte zwei Jahre in einem Kinderheim gelebt, ehe er adoptiert wurde. So haben sie sich kennengelernt, die beiden Hervés. Und sie haben sich nie mehr aus den Augen verloren. An dem Abend, als sie hier waren, hatten sie beschlossen, das Ende ihres Studiums zu feiern. Sie müssen so um die dreiundzwanzig, vierundzwanzig gewesen sein. Der große Ungezogene hatte Medizin studiert, Tom hatte nicht nur einen Abschluss der École Polytechnique, sondern auch noch von einer ganzen Reihe anderer Universitäten, aber ich bin mittlerweile zu schwach, um mich an alle zu erinnern! Sie haben die ganze Nacht hindurch getrunken, und nach einer Weile habe ich ihn gefragt: ›Warum bist du denn heute hergekommen?‹ Und da hat er gesagt … warten Sie, ich lese Ihnen seine Antwort vor: ›Um einen Kreis zu schließen, den Kreis des Leidens. Du warst der einzige gute Mensch, den ich in meinem ganzen Leben getroffen habe …‹ Der andere war auf einer Bank eingeschlafen, und wir beide haben zusammengesessen. Er hat mir von dem elenden Leben bei seinen ganzen Pflegefamilien erzählt. Er war ja immer nur bei Irren gelandet! Im Morgengrauen sind sie dann gefahren. Sie wollten nach Paris. Er hat nie wieder etwas von sich hören lassen. Eines Tages habe ich in der

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