Der Lavagaenger
am Telefon mit seiner Mutter die Garderobe für die Goldene Hochzeit.
Auch das noch, dachte Helder. Familienfeiern waren ihm von jeher ein Graus. Der geballte Aufmarsch der Verwandtschaft. Das Tantentätscheln und Schultergeklopfe lustiger Onkel, zappelnde Cousins und zanksüchtige Cousinen. Die immergleichen Fragen nach Schule und Berufswünschen. Später auch: Und hast du denn schon eine Freundin?
Nein, ich masturbiere noch – hatte er nicht gesagt, nur gedacht. Stattdessen brave Antworten und wieder: Tantentätscheln, Onkelklopfen.
Dagegen halfen nur heftige Ausbrüche von Fieber. Dreitagefieber. Dreitageruhe in einer Dreitageburg aus Federkissen. Nur unterbrochen von nassen Lappen um die Waden und einer kühlen Mutterhand auf der Stirn. Draußen rauschte der Kosmos in der Krone der Esche vor dem Haus, schickte Schattenbilder in seine Höhle: Flora und Fauna tanzen auf der Tapete, Hirsche mit goldenem Geweih springen vorüber, Bäume sprechen mit wiegendem Haupt, steinerne Blumen brechen auf … Später auch die Historie: Seeräuber schwingen die Säbel, Indianer preschen auf Mustangs heran, Rotarmisten springen über Schützengräben. Der Kämpfe war kein Ende. Doch. Nachdrei Tagen war Friede. Die Feier, von der nur dumpfes Rumoren und ab und zu ein gellendes Gelächter in Henris Universum gedrungen waren, ausgefeiert und beräumt.
Aber nun kündigte sich eine Feier an, der fernzubleiben unmöglich war. Diese Feier war die Feier der Eltern, die fünfzigste Wiederkehr ihrer Hochzeit und damit der formellen Begründung seines Lebens. Verliebt, verlobt, verheiratet, gezeugt (musste wohl passiert sein) und geboren, gelebt und gestorben. Gestorben? Nein, das nicht, noch nicht.
Plötzlich schien ihm, dieser Mann mit den glühenden Sohlen sei gekommen, um ihn abzuhalten vom Sterben, das eigentlich ein Totstellen war. Merkwürdig, Helder bedauerte das. Leben war so anstrengend und öd. Es war so öd, weil es so anstrengend war. Und es war so anstrengend, weil …
Es war wie jetzt: Stadt und Himmel waren nur noch ein einziges graues Ineinanderfließen. Das gleichförmige Fallen des Regens beruhigte ihn. So als würde alles, was bedrohlich irgendwo schwelte, zischend zum Verlöschen gebracht. Jemandem von seinem Erlebnis erzählen? Wie peinlich! Überhaupt,
ob
erledigte sich, wenn man nicht wusste,
wem
.
Helder kochte sich einen Johanniskrauttee.
Manchmal, so wird Helder später sagen, stelle ich mir vor, dass es tatsächlich Großvater war, dem ich begegnet bin. Der Lavagänger. Von diesem Tag an, da Susanne morgens in der heißen Badewanne gelegen und der GENERAL mich endgültig geschlagen hatte, habe ich ihn täglich gesehen. Er ging vor mir über die Straße, überquerte einen Platz, lief einen Fußweg entlang, eilte über eine Brücke … Von seinen Sohlen schlugen Flammen, knöchel-, ja kniehoch. Jedes Mal. Dort, wo der Asphalt sich wölbte und unter seinem Tritt brach, hinterließ er eine rotglühende Spur. Schnell aber verschloss die Erde ihr Inneres wieder.Staub, Regennässe, Reif oder Schneematsch bedeckte die Straße vor dem Haus, und ich sah sie nur mehr, wie alle sie sehen.
Ein Tagtraum, wird Helder sagen, sicher. Doch niemand weiß, wo Großvater begraben liegt. So wie er damals einfach verschwunden ist, könnte er doch auch wieder aufgetaucht sein. Hier in meiner Straße, vor meinem Haus, vor meinen Augen. Könnte doch sein?
So oder so: Helders Leben begann sich zu ändern.
Schon nach seinen ersten nächtlichen Träumen vom Lavagänger hatte Helder gespürt: Es ging ein Riss durch sein Leben, das fünfundvierzig Jahre lang auf Sicherheit gegründet war. Doch dieser Riss erschien nicht über Nacht, er war schon immer da gewesen. Kein klaffender Spalt, eher die Andeutung eines Risses. Man hatte ihn nicht bemerken müssen, man hatte darüber hinwegsehen können. Jetzt aber nicht mehr. Jetzt hatte er Angst. Er ging zum Arzt, sprach allgemein von nächtlicher Unruhe, Störungen seines Schlafes und Herzklopfen.
Ein EKG zeigte Normalität an. Der Arzt verschrieb Magnesium für den Körper und Johanniskraut für die Nerven.
Es half nichts. Nächtens versank er wieder und wieder in unerwartet aufbrechenden Klüften. Sauber gefegte Plätze teilten sich plötzlich, sein Auto schoss nach einer Kurve unvermittelt in einen Abgrund hinein, die Rasenfläche vor seinem Büro wurde ohne das kleinste Vorzeichen wie von einem Blitz – zickzack – zerrissen. Alles neigte sich einem glühenden Fluss entgegen.
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