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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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genau die Fahrkarte, die der Fahrgast verlangt hatte. Es war ein feierlicher Moment gewesen, als sein Sohn Henri, nachdem der Apparat lange gekeucht und gerattert hatte, aus den Händen des Vaters die erste Fahrkarte seines Lebens in Empfang nahm, ein kleines braunes Papptäfelchen mit geheimnisvollen Schriftzeichen. Ihm war, als wäre das, was er in Händen hielt, die Eintrittskarte ins Leben. Eine Welt voller Möglichkeiten: Da eine vergrabene Schatztruhe – er hatte den Plan. Dort ein tückischer Troll – er kannte den Bannspruch. Und endlich hier die verwunschene Königstochter – das erlösende Wort wusste nur er.
    Na Junge, nun musst du auch fahren, sagte der Vater. Er war aus seinen Diensträumen getreten und stand jetzt vor ihm: groß und dunkelblau, mit blitzenden Knöpfen. Sein Zeigefinger hob sich, senkte sich herab und erklärte die Zeichen.
    Das kleine Kärtchen wurde zur Gebotstafel, und Henri, der sie empfangen hatte, stand vor dem Vater wie Moses am Berg. Kein Märchenheld mehr, aber immerhin noch ein Moses.
    So, nun beeil dich!
    Die Mutter zog Henri hinaus auf den Bahnsteig, der Zug schnaufte heran, und los ging es zum sonntäglichen Großmutterbesuch nach Krahnsdorf-Brandt. Erst später begriff Henri, dass des Vaters Sonntagsdienste zwar bei der Mutter, doch nicht beim Diensttuenden selbst unbeliebt waren, obwohl er bestimmt das Gegenteil beschworen hätte. Doch Mutter hütete sich, ihn zum Eid zu nötigen, denn, so ahnte sie, wer, wie sie, einen Lavagänger zum Vater hat, der darf nicht noch am Pflichtbewusstsein eines deutschen Eisenbahners zweifeln.
    Erschwerend kam hinzu, dass die Mutter hatte, was der Vater einen undichten Drall nannte. Eine Wortbildung, nicht ohne poetischen Reiz, weil er sie doch auf solche Dinge bezog, wie Bücher, welche, von Dichtern verfertigt, die Menschheit so wenig voranbrächten wie der undichte Kessel einer Lokomotive einen Zug. Sie, die Dichter, sollten also, folgerte der Vater, eher Undichter heißen.
    Kurzum: Rosa Helder liebte das Künstlerische. Und obwohl sie die zeichnerische Leidenschaft ihrer Jugend abgelegt hatte, war sie nicht ohne einen gewissen Trotz gegenüber ihrem allen Künsten abgeneigten Mann. Während der Besuche in Krahnsdorf-Brandt nämlich frönte sie der Kunst des Stickens. So war eines Tages jedes Wäschestück, sogar Henris Nachthemd, von romantischen Blumengirlanden oder klassischen Mäandern gesäumt, und manch neue Tischdecke von verlockend unbesticktem Weiß wurde beschafft.
    Henri hörte den Frauen zu, machte Knoten in die Fransen des Tischtuchs oder untersuchte das Porzellangetier auf der Anrichte.
    Wirst Langeweile haben, Jungchen, nich, sagte die Großmutter und kramte aus einer Schublade ein altes abgegriffenes Kartenspiel hervor. Guck mal! Sind schöne Lokomotiven drauf und schmucke Uniformen.
    Beim Sonntagssticken war neben der Mutter und Großmutter ein backpflaumenartiges altes Weiblein anwesend, das Henri bei seinen ersten Besuchen für eine leibhaftige Hexe hielt, mit der gut zu stellen er sich durch artiges Dienern bemühte. Später begriff er, dass es sich mitnichten um eine Hexe, sondern um die ältere Schwester der Großmutter handelte. Von ihr, Tante Erdmuthe genannt, vernahm Henri auch zum ersten Mal die eine oder andere Bemerkung über den Lavagänger. Passend zur Hexe erschien ihm dieser als ein Zauberer, der in einem Feuerberg wohnte. Er war der gütige Meister, zu dem Henri manchmal vor der väterlichen Strenge entfloh. Er war der Clown, der ihn mit lustigen Kunststücken vor der mütterlichen Schwermut rettete.
    Der konnte was, sagte die Hexe und wies an: Knick mir die Karten nicht, das Spiel ist noch von deinem Opa!
    In einem bösen Großmutterknurren glaubte Henri das Wort
Betrüger
rumoren zu hören.
    Aber, kommentierte dies die Hexe, ein stattlicher Kerl war er doch! Dabei versuchte sie mit der Zunge zu schnalzen, so dass ihr Gebiss ein klackerndes Geräusch von sich gab, das an das Schackern der Elstern erinnerte.
    Der Stickrhythmus der Mutter verlangsamte sich bei diesem Thema auf Seufzergeschwindigkeit.
    Seltener Höhepunkt dieser Stick- und Stichelsonntage war das Auspacken jener Postsendungen, die ein Henri unbekannter Großmuttersohn aus ihm ebenso unbekannter Ferne herbeischickte.
    Ich hab ja schon mal reingeguckt, sagte die Großmutter.
    Wird ja wohl noch alles drin sein?, kommentierte die
    Tante.
    Dann begann das Rascheln von Seidenpapier, Seifenduft vermischte sich mit dem von Kaffeebohnen und

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