Der Lavagaenger
Züge. Güter und Menschen, die über die Schienen glitten. Fahrgäste, die umstiegen. Waggons, die rangierten. Minimale Wartezeiten, verlustlose Wege, eine Schöpfung, im Vergleich zu der Gottes präzise und nützlicheren Regeln unterworfen.Mit einem Ziel: die Ankunft. Pünktlich und sicher. Endstation. Aussteigen, und alles war gut.
Natürlich gab es Verspätungen, natürlich Kunden, die sich beschwerten, auch Bahnhöfe, die er aus dem Fahrplan streichen musste, defekte Oberleitungen, Kühe auf den Gleisen oder Selbstmörder und manchmal eine Bombendrohung – Vorfälle also, die alle Berechnungen zunichtemachten. Niemals aber hatte Helder etwas anderes als eine Herausforderung darin gesehen, dem Leben, wie er es verstand, bei seinem Zweck zur Seite zu stehen: schnell und sicher zu sein, schneller und sicherer zu werden.
Schneller allerdings, als es Helder lieb gewesen war, hatten sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts mit den zwei deutschen Staaten auch zwei deutsche Bahnen vereinigt. Und sicher war sich Helder seines Arbeitsplatzes bei der neuen Deutsche Bahn AG nur kurze Zeit gewesen.
Helder rangierte und hängte seinen Lebenswagen um:
Wir fahren. Zum Glück. Für Sie. – Rail4You … Rail4You – Das Unternehmen mit der Aktie an der Zukunft.
Helder ging an diesem Tag nicht zum Friseur, schuld war der GENERAL.
Der GENERAL agierte schon einige Wochen bei Rail4You. Bis dahin hatte Helders Abteilung in mühseliger Kleinarbeit die Fahr-, Dienst- und Betriebspläne am Computer erstellt, mit denen der Deutschen Bahn koordiniert, mit den eigenen Dienst- und Betriebsvorschriften abgestimmt und immer wieder die Einsparvorgaben der Leitung mathematisch ad absurdum geführt. Das aber erledigte jetzt alles der GENERAL. Nein, nicht alles. Der GENERAL setzte auch die Einsparvorgaben um.
Der Chef hatte wie ein siegesgewisser Feldherr gestrahlt, als das GENEtisch Relational ALgorithmische Datenbanksystem, kurz: der GENERAL, die ersten Ergebnisse lieferte. Damit werde sämtlichen Gegnern einespünktlichen und kostensparenden Bahnverkehrs der Garaus gemacht!
Sicher, was der GENERAL im Ergebnis auf dem Monitor als vielfarbig blinkenden Streckenplan präsentierte, war jedem Eisenbahner ein optischer Genuss. Doch sollte der Fahrplan des GENERALs tatsächlich, was das Verhältnis von Kundenfreundlichkeit und Betriebskosten betraf, unschlagbar sein?
Wochenlang hatte Helder versucht, dem GENERAL nachzuweisen, dass er sich irrte. Helder hatte nach einer unakzeptablen Umsteigezeit gesucht, nach einer nicht berücksichtigten Baumaßnahme oder, was einer absoluten Disqualifizierung gleichgekommen wäre, nach einem von zwei Zügen gleichzeitig befahrenen Blockabschnitt.
An diesem Nachmittag, noch den Geschmack kalten abgestandenen Kaffees auf der Zunge, erkannte Helder plötzlich und unwiderlegbar: Seine Aussichten, einen Fehler zu finden, waren weitaus geringer als die von Kasparow, Deep Blue zu besiegen.
Er hätte sich dennoch über diesen elektronischen Kollegen freuen können. Er hätte sich, während der GENERAL rechnete, aus der Bäckerei ein Nougatschiffchen holen können. Er hätte sich einen frischen Kaffee brühen können, um dann mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf das Ergebnis zu warten. Freu dich doch, hatte auch Susanne gesagt. Aber er freute sich nicht. Er konnte es nicht. In des GENERALs siegreicher Schlacht war er das erste Opfer.
Mit hängenden Schultern, hängendem Kopf und ratlos baumelnder Strähne verließ Helder das Büro, stieg ins Auto und fuhr los. Als er in seine Straße einbiegen wollte, lief jemand direkt vor ihm über die Kreuzung. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Spaziergänger, an sich unauffällig. Doch unter seinen Schuhen züngelten kleine Flammen hervor. Er hinterließ eine glühende Spur.
So wie in Helders Traum. Nur der Abgrund blieb aus …
Verblüfft, so wird Helder eines Tages erzählen, habe er den seltsamen Fußgänger hinter der nächsten Hausecke verschwinden sehen. Er sei sogar aus dem Auto gestiegen, um den Asphalt näher zu untersuchen. Ja, er habe sich hingehockt und vorsichtig jene Stellen betastet, wo die glühenden Fußabdrücke nur noch zu vermuten waren. Zu sehen oder zu fühlen sei da nichts gewesen. Erst das Hupen eines ungeduldigen Zeitgenossen habe ihn zur Besinnung gebracht. Irritiert, auch von seinem eigenen Verhalten, sei er nach Hause gefahren. Urlaubsreif, dachte er.
In den Abendnachrichten wurde gerade eine Stadt bombardiert, und Susanne besprach
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