Der Lavagaenger
Und immer wieder ging er vorüber, der Lavagänger.
Nun also auch schon am Tage. Helder fröstelte. Er schlürfte den heißen Johanniskrauttee. Er schwitzte. Rosa Wölkchen klebten inzwischen am Horizont, und der Krieg im Fernsehen machte Pause. Susanne schwebte in schimmerndemPink und englische Vokabeln psalmodierend durch die Wohnung. Sie hinterließ eine intensive Duftspur.
Willst du weg?
Na, das weißt du doch: mein Kurs.
Sie stand vor dem Flurspiegel und begann, ihre Augenbrauen mit einer Pinzette zu bearbeiten. Helder schob eine Lasagne samt Aluminiumfolie in den Herd, während er Susanne von einer einmaligen Chance sprechen hörte.
Übrigens, so klang es zu Helder herein, der Termin heute … mein Chef hat mir eine neue Aufgabe angetragen. Allerdings – stell nicht wieder so heiß, sonst ist sie oben schwarz und innen noch kalt – in Brüssel.
Ich geh immer nach der Backanleitung. Brüssel? Du willst nach Brüssel? Helder starrte durchs Sichtfenster des Herdes, als wäre dort Brüssel zu finden. Die Stadt wölbte erste Käseblasen auf. Er schwieg und sah zu.
Nicht gleich, rief sie und zupfte an ihren Brauen. Erst in ein paar Wochen. Und keine Sorge, bei der Goldenen Hochzeit bin ich selbstverständlich dabei.
Helder reagierte noch immer nicht. Nach einer Weile begann Brüssel zu blubbern, und Helder fragte endlich nach seinem Platz in Susannes Plänen.
Du, sagte sie und steckte den Kopf zur Tür herein, bleibst hier!
Helder riss die Herdklappe auf, zog die Lasagne heraus und setzte sie mit Schwung auf den Tisch, so dass ihm die heiße Soße ins Gesicht spritzte. Verdammter Mist!
Aber was hast du denn? Brüssel liegt doch nicht aus der Welt.
Waren ausbleibende Fertiggerichte ein Argument gegen Brüssel? Seine schmutzigen Socken? Seine Hemden, seine Unterhosen, sein Liebesleben? Half es, mit Bordellbesuchen zu drohen? Zwecklos, sie wusste doch, schon ein verschnupfter Kollege machte ihn panisch, wie erst eine von aller Welt konsultierte Hure?
Später am Tisch, als beide mit vorgerecktem Kopf und spitzen Lippen heiße Bissen von ihren Gabeln fischten, tröstete sie ihn. Belgien verfüge ebenfalls über Gleise und Züge, vielleicht sei da ja was zu machen. Sie sah jedoch nicht aus, als würde sie das ernsthaft hoffen. Er sah sich hilflos aufs Abstellgleis rollen, dem Prellbock entgegen, zwei, drei Mal von ihm zurückgestoßen, ohne wirkliche Chance, jemals wieder aufs Betriebsgleis zu kommen.
Einige Tage später kam Post von einer Anwaltskanzlei aus Hamburg. Ja wollte sie sich jetzt gleich noch scheiden lassen? Bitte schön, von mir aus! Mit einem Mal wurde Helder klar, dass er seine Frau verloren hatte. Nicht erst jetzt, mit diesem Brief, nicht erst, seit sie sich entschlossen hatte, ihre berufliche Karriere andernorts und ohne ihn fortzusetzen. Es gab überhaupt kein Ereignis, das er hätte benennen können als den Anfang dieses Endes. Keine Affäre, kein heimliches Laster, nichts. Es war ein schleichender Verlust gewesen, schmerzlos, überdeckt von einer angenehmen Vertraulichkeit und vertrauten Annehmlichkeiten. Es war alles sicher gewesen, planbar, verlässlich. Einzig die jährlich wechselnden Urlaubsorte ungewiss, bis wieder feststand, wohin die Fahrt des nächsten Jahres ging.
II
Helder öffnete den Brief und sah, das war noch nicht das Ende. Nicht um eine Scheidung ging es, sondern um eine Erbschaftsangelegenheit. Er machte keine Luftsprünge. Nur sein Herz sprang auf und nieder. Denn es ging um ein Testament seines Großvaters, mütterlicherseits. Das war er. Der Lavagänger. Wie hatte er den vergessen können. Jetzt hatte er auch einen Namen: Hans Kaspar Brügg. Der unbekannte Großvater. Der in ferne Feuerberge verbannte Zauberer seiner Kindheit.
Doch war dieser Großvater nicht schon lange tot? Länger, als man zwischenstaatlichen Bürokratien zutrauen konnte, eine Erbschaftsangelegenheit zu verzögern? Wie hatten die alten Weiber immer gesagt: Dein Großvater ist verdampft auf den Lavafeldern von Hawaii.
Also, auf nach Hamburg!
Natürlich fuhr Helder mit der Bahn, auch wenn er einen Moment lang erwog, an seinem Arbeitgeber Rache zu nehmen: Rache wegen des GENERALs, Rache für seine absehbare Überflüssigkeit. Doch dann siegte das Pflichtgefühl über private Gefühlsanwandlungen.
Graugriesel, Schneegriesel, der November patschte gegen die Scheiben, rann herab, ohne Chance, hereinzukommen in das beheizte Abteil. Draußen zog leicht schaukelnd die Welt vorüber: das matte
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