Der Leichenkeller
lassen.«
Ich nahm das Angebot dankend an. »Es dauert nur eine Minute.« Ich schloss die Schlafzimmertür, zog Jeans und Sweatshirt an und faltete die geliehenen Chinos und das Hemd, damit Streeter sie zurückgeben konnte.
Auf dem Weg zum Flughafen mussten wir ständig Gegenständen ausweichen, die der Sturm auf die Straße geschleudert hatte. Ich bedankte mich bei Streeter und stellte mich zu den paar New Yorkern an den Schalter, die sich ungeduldig erkundigten, wann der nächste Flug zurück in die Stadt ging. Wie es aussah, würde es um sechs Uhr abends einen Sonderdirektflug nach La Guardia geben.
Der Tag war ohnehin gelaufen. Mein Handy war seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr aufgeladen worden und war tot. Die öffentlichen Telefonsäulen waren nonstop von Reisenden besetzt, die nach Alternativen suchten, um aufs Festland zu gelangen. Ich drehte den Taschenbuchständer im Souvenirladen. Die guten Bücher hatte ich alle bereits Monate zuvor im Hardcover gelesen. Schließlich kaufte ich mir einen Thriller eines britischen Autors, den ich noch nicht kannte, und machte es mir damit in einer Ecke am Fenster bequem.
Die Fluggesellschaft hatte irgendwo im Nordostkorridor eine DC-3 aufgetrieben. Als sie vor dem Terminal zum Stehen kam, sah sie aus, als wäre sie gerade in einem Kriegsfilm über die Berge von Burma gekommen. Wir gingen rasch an Bord und kämpften uns über den leicht ansteigenden Mittelgang zu unseren Sitzen. Der normalerweise kurze Flug dauerte knapp eineinhalb Stunden, und es war fast acht Uhr, als ich in New York den Terminal verließ und ein Taxi rief.
Fließend heißes Wasser! Ich zog mich aus und drehte die Dusche voll auf. Meine Zehen und Fingernägel waren noch schlammverkrustet. Ich musste ein schönes Bild für meine Mitreisenden abgegeben haben. Meine verfilzten Haare waren einige Schattierungen dunkler als vor dem Sturm, und ich musste mehrere Minuten schrubben, bevor sich überhaupt Schaum bildete.
Abgetrocknet und in ein langes Nachthemd gekuschelt, setzte ich mich aufs Bett und hörte meinen Anrufbeantworter ab. Elf Nachrichten! Ich sehnte mich nach einer bestimmten Stimme. Ich löschte Ninas Nachricht, dass ihr Sohn einen Platz in einem Vorkindergarten in Beverly Hills bekommen hatte, den Anruf meiner Mutter, die sich über die Hurrikanschäden Sorgen machte, drei Nachrichten von Mike, der sich nicht sicher war, wo ich steckte, und eine ganze Reihe von Anrufen von Freunden und Bekannten. Endlich, als neunte Nachricht, kam Jakes Anruf. Ich hatte ihn um weniger als eine halbe Stunde verpasst.
»Hey, du hast wohl doch beschlossen, auf Martha’s Vineyard zu bleiben.« Er klang kühl und kurz angebunden. »Ich bin mit einem Freund zum Abendessen verabredet. Ich komme am Wochenende nach Hause.« Pause. »Wir müssen reden, Alex.«
Das hatte mir gerade noch gefehlt! Wo blieb heutzutage bloß die gute alte Action?
Reden würde nur jeden Unterschied zwischen uns freilegen, jeden kleinlichen Grund, warum wir nicht zueinander passten. Dabei wünschte ich mir im Moment nichts sehnlicher, als dass er zur Tür hereinkommen, mich in die Arme nehmen und mir das Gefühl geben würde, gut aufgehoben, sexy und begehrt zu sein. Reden brachte gar nichts.
Bei Mike zu Hause hob niemand ab. Ich legte Musik auf, setzte mich an meinen Schreibtisch und las erneut die Akten über Paige Vallis – die Vergewaltigung und den Mord –, um zu sehen, ob irgendetwas einen Sinn ergab. Nichts, gar nichts. Als Nächstes holte ich mein Scheckbuch hervor und machte mich an den wachsenden Berg der Rechnungen.
Noch vor zehn überkam mich plötzlich die Erschöpfung, die nach einem Schock und einer Stresssituation eintritt, und ich kroch ins Bett. Der Schlaf tat gut, und ich war am Samstagmorgen um acht Uhr fit und munter.
Der erste Anrufer war Mercer Wallace. »War’s schwierig, wieder in die Stadt zu gelangen?«
»Die einzige leichte Sache seit Tagen. Hör zu, ich muss –«
»Ich habe Neuigkeiten –«
Wir hatten gleichzeitig gesprochen. Jetzt hielt er inne und ließ mir den Vortritt.
»Ich muss dir erzählen, was mir während des Sturms passiert ist.« Ich beschrieb, wie mein Einbrecher ums Haus geschlichen und ich ihm entwischt war. Im Gegensatz zu Chip Streeter verstand Mercer, dass das weder ein Zufall noch ein schlechter Scherz gewesen war.
»Ich kümmere mich um Spike Logan. Ich werde sein Auto und seinen Onkel überprüfen. Und herausfinden, ob Hoyt wirklich in Nantucket auf seinem Boot war.
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