Der leiseste Verdacht
mir nur drei Möglichkeiten ein«, sagte er zögerlich. »Zum einen Agenten, die einen gefährlichen Auftrag ausgeführt haben und danach in Deckung gehen müssen. Darauf seid ihr ja selbst schon gekommen. Zum anderen Leute, die in Lebensgefahr schweben, weil sie zum Beispiel einer kriminellen Organisation in die Quere gekommen sind. Was nicht ausschließt, dass sie selbst an Verbrechen beteiligt sind. Und zum Dritten Verbrecher, deren allgemeiner Bekanntheitsgrad so hoch ist, dass sie nach verbüßter Strafe eine neue Identität brauchen, um überhaupt eine Chance zu haben, sich wieder in die Gesellschaft integrieren zu können. Was hier nicht der Fall zu sein scheint, da das Reichspolizeiamt ja definitiv die Beteiligung an einem Verbrechen ausschließt.«
»Was hältst du von Katharinas Idee, dass er ein Wissenschaftler auf der Flucht sein könnte?«, wollte PM wissen.
»Theoretisch gäbe es so viele Möglichkeiten«, sagte Roffe gähnend. »Lasst euch nicht von meiner begrenzten Erfahrung beirren. Vielleicht kommt er auch aus dem Weltraum. Was weiß ich?«
PM runzelte die Brauen. »Aus dem Weltraum? Also von einem Kriminalhauptkommissar darf man wohl ein bisschen mehr Realitätssinn erwarten. Du hast zu viele Fernsehkrimis gesehen, mein Lieber.«
Roffe wandte sich an Katharina.
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»Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr beide nichts weitererzählt?«
»Da kannst du ganz beruhigt sein«, antwortete sie. »Für dich ist das hier vielleicht Routine, aber du musst verstehen, dass solche Neuigkeiten für uns ziemlich aufregend sind. Es ist eine Sache, seinem Nachbarn gegenüber misstrauisch zu sein, aber eine ganz andere, von der Polizei bestätigt zu bekommen, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Und vor allem eine Sache geht mir nicht aus dem Kopf: Wie kann das Reichspolizeiamt sich denn so absolut sicher sein, dass er in kein Verbrechen verstrickt ist?
Haben sie sich nicht so ausgedrückt? Es steht schließlich fest, dass in seinem Umkreis die sonderbarsten Dinge geschehen.
Und wenn er geschützt werden muss, dann sollten sie sich zumindest für die Vorfälle interessieren, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken und kategorisch zu behaupten, er könne in nichts verwickelt sein. Also mir kommt das zumindest grob fahrlässig vor.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Roffe. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, noch mal Kontakt zur Reichspolizei aufzunehmen und um nähere Informationen zu ersuchen. Hinsichtlich des Verhaltens von Marco Fermi scheint mir das gerechtfertigt. Mal sehen, ob ich am Montag so viel Mumm aufbringe.«
»Warum denn nicht?«, fragte PM. »So leicht lässt du dich von deiner Obrigkeit doch wohl nicht ins Bockshorn jagen. Denk dran, dass du ein streitbarer Mann bist, der schon manche Bürokraten das Fürchten gelehrt hat.«
Katharina stand auf.
»Jetzt gibt’s Kaffee und Zitronentorte«, verkündete sie, während sie begann, den Tisch abzudecken. »Danach sollten wir uns einen Drink genehmigen. Hast du nur deinen alten Whisky anzubieten, Patrik?«
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PM sah beleidigt aus. »Alt ist er, aber einen besseren wirst du kaum finden. Was hältst du von Macallan, Roffe? Ich habe zu Weihnachten eine große Flasche von meinem Bruder bekommen.«
Roffe betrachtete neugierig das Etikett, das PM ihm vor die Nase hielt.
»Hm, hab ich noch nie probiert … Ich nehme gern ein Glas, aber erst nach dem Kaffee«, sagte er.
Sie setzten sich vor den Kamin aufs Sofa. PM legte eine neue CD ein, Prokofjews Ballettmusik Romeo und Julia.
Als sie eine ganze Weile später vor der leuchtenden Glut des verbrannten Holzes saßen und ansehnliche Mengen des Weihnachtswhiskys hinuntergespült hatten, kam PM ein Gedanke, den er Roffe sofort mitteilte.
»Du solltest Nisse kennen lernen«, sagte er. »Da du bei uns übernachtest, könnten wir morgen früh bei ihm vorbeischauen.
Dann mache ich euch miteinander bekannt.«
Roffe nickte zustimmend. »Keine dumme Idee. Wäre gut, wenn ich mit ihm allein sprechen könnte. Aber dann musst du zusehen, dass du zeitig aus den Federn kommst. Ich habe nämlich keine Lust, den halben Tag hier herumzusitzen und zu warten, bis du aufwachst. Außerdem habe ich morgen Nachmittag eine Verabredung, die ich unter keinen Umständen verpassen will.«
Katharinas aufmerksamer Blick registrierte den flüchtigen Schimmer in seinen Augen.
»Geht es um diese rätselhafte Frau, die du kennen gelernt hast?«, fragte sie.
»Was?«, fragte PM. »Er hat eine rätselhafte Frau
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