Der leiseste Verdacht
auch nur die geringsten Anzeichen von Furcht zu zeigen.
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Als Roffe nach einiger Zeit zu Patrik nach Hause eingeladen wurde, kannte seine Verwunderung keine Grenzen, denn sein neu gewonnener Freund war offensichtlich kein einzigartiges Phänomen. Seine gesamte Familie schien vom selben Schlag zu sein. Patriks Eltern hatten nicht weniger als fünf großmäulige Kinder, die lärmend und selbstgewiss eine geräumige alte Villa bewohnten, in der ein ständiges Chaos zu herrschen schien.
Außerdem besaßen Patriks Eltern eine berühmt-berüchtigte Buchhandlung in der Stadt; ein Umstand, der Roffe erst Jahre später bewusst wurde.
Zu dieser Zeit gab es in Christiansholm zwei Buchhandlungen, von denen nur die eine als zweifelsohne respektabel galt. Sie war wohlgeordnet und führte neben Schulbüchern und Konfirmationsbibeln auch Erbauungsliteratur sowie die einschlägigen Bestseller. Außerdem gab es dort Schreibwaren.
In der anderen herrschte zumeist drangvolle Enge. Auf den Tischen und der Ladentheke türmten sich die Novitäten. Es roch nach Staub und Zigaretten. Hierher ging man, um sich einen Überblick über die wichtigsten Neuerscheinungen in Lyrik und Prosa zu verschaffen, und suchte man nach etwas Gewagtem, beispielsweise einem skandalumwitterten Roman, der öffentlichen Anstoß erregte, wurde man hier stets fündig. Dieser anrüchige Ort war nicht nur ein Treffpunkt für literarische Feinschmecker und politische Extremisten, sondern auch für Gymnasiasten, die als besonders progressiv gelten wollten.
Ohne seinen Vater direkt anzulügen, gelang es Roffe, diesem jahrelang zu verschweigen, dass Patrik der Sohn des nur in gewissen Kreisen geschätzten Buchhändlers war. Als die Wahrheit schließlich ans Licht kam, waren es die Liebe und der Respekt des Vaters für die Musik, welche die Situation retteten.
Zu dieser Zeit gingen beide Freunde bereits aufs Gymnasium und standen unter dem Einfluss ihres enthusiastischen Musiklehrers Ahlstedt, der sich mit heldenhafter Beharrlichkeit auch um das städtische Amateurmusikleben verdient machte.
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Roffe war der Sohn eines Organisten und hatte die Grundlagen des Klavierspiels erlernt, noch ehe er richtig sprechen konnte.
Patrik, der aus einer Familie kam, in der viel musiziert wurde, nahm seit dem sechsten Lebensjahr Cellounterricht. Ahlstedt hielt ihn für sehr talentiert, was auch Roffes Vater milde stimmte. Ein Junge, der so musikalisch war, konnte nicht von Grund auf verdorben sein, auch wenn er einen dubiosen Vater hatte.
Während ihrer gesamten Gymnasialzeit waren die beiden Jungen davon überzeugt, dass ihnen eine Karriere als Musiker bevorstand. Eine Überzeugung, die von Musiklehrern und Eltern eifrig genährt wurde. Doch Patrik war vielseitig begabt und neugierig auf die meisten Dinge. Er schloss sich mit einigem Erfolg einer Laienspielgruppe an und wollte eine Zeit lang Schauspieler werden. Später wandte er sich der Malerei zu und hielt mit beinahe beunruhigender Beharrlichkeit an ihr fest.
Roffe konnte sich gut an Patriks erste Vernissage erinnern. Eine seltsame Veranstaltung, die in der Diele der großen Villa stattfand, wo er ein paar Ölbilder aufgestellt und zahlreiche Zeichnungen mit Reißnägeln an die verschlissenen Tapeten geheftet hatte. Damals gingen sie in die Unterprima. Patrik hatte vehement die Werbetrommeln gerührt und die halbe Schule mit dem Versprechen, der Wein werde in Strömen fließen, zu sich nach Hause gelockt. Roffe konnte sich nicht erinnern, dass die Bilder auf das Publikum einen nachhaltigen Eindruck gemacht hätten. Es lag zweifellos am Wein, dass der Andrang so zahlreich war.
1965 hatten sie Abitur gemacht, und dieser Sommer war zweifellos der glücklichste seines Lebens gewesen. Die Schulpforte, die er als Gefängnistor empfunden hatte, stand sperrangelweit offen und gab den Blick auf ungeahnte Möglichkeiten frei. Patrik hatte sicher Ähnliches empfunden, nur dachte er bereits weiter. Nach Wochen des Feierns, die sie sich ehrlich verdient zu haben glaubten, kehrte er dem 86
verschlafenen Christiansholm den Rücken und machte sich auf nach Stockholm. Die offizielle Begründung lautete, er wolle Privatstunden bei einem Cellolehrer der Musikhochschule nehmen. Roffe war sich hingegen nicht mehr so sicher, was seine Berufswahl betraf. Er wohnte weiterhin zu Hause und sprang hier und da für seinen Vater als Organist ein. Doch schon nach einem Jahr hatte er von diesem Leben genug, und es kam zu der unvermeidlichen
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